Die verzauberten Frauen
abnehmendem Interesse. Dann jedoch stieß er auf eine Passage, die ihn erstaunte. Die Chronika beginnt exakt 1346, im Jahr der geistlichen Inthronisierung Gerlachs! Das Manuskript war erst im 20. Jahrhundert wieder aufgetaucht. Und zwar im elsässischen Trappistenkloster Oelenberg. Das Jahr des Auftauchens der Chronika schloss die Lücke. Es war das Jahr 1946! Auf den Tag genau sechshundert Jahre lagen dazwischen.
1946. In einem Trappistenkloster …
Diese Ereignisse waren natürlich in keiner Datenbank zu finden. Es waren überwiegend literarische Daten, scheinbar ohne Relevanz, nur für einen kleinen Kreis von Fachleuten von Interesse.
Martin Velsmann wusste, diese Zusammenhänge konnten völlig zufällig entstanden sein, verknüpft nur von seinem einseitigen Erkenntnisinteresse. Sie konnten aber auch entscheidend sein. Nämlich dann, wenn irgendjemand sie für entscheidend hielt! Aber wer konnte das sein? Wohl kaum jemand, der im Dreißigjährigen Krieg die ominöse Mahnung verfasst hatte.
Er war sich darüber im Klaren, dass er sich auf keinen Fall in irgendwelche Hirngespinste hineinsteigern durfte. Er ging noch einmal alles sorgfältig durch und machte sich Notizen. Dann schloss er die Bücher.
Er war zu spät gekommen. Das tanzende Licht erlosch, noch bevor er das Haus betrat. Oben an seiner Wohnung im dritten Stockwerk stand er lange und lauschte. Dann ging er hinein. Das Licht musste durch eine Spiegelung vom Haus gegenüber entstanden sein, dort wohnte ein Freak, der seine Wohnung immer mit den neuesten Lichtinstallationen ausstattete. Ein Illuminat , wie er ihn nannte, wenn er bei Laune war. Meistens war er nicht bei Laune.
Sie riefen. Die Zeit rief. Er musste endlich die Probleme seines Lebens zu fassen kriegen. Er war alt genug dafür. Aber wenn es so war wie jetzt, lähmten ihn seine viel zu zahlreichen Ideen, seine unaufhörlich zirkulierenden Gedanken. Er konnte stundenlang am Fenster sitzen, am Tag und bei Nacht, und hinaussehen. Auch, wenn es nichts mehr zu sehen gab. Unbeweglich. Eine Summe erstarrter Gedanken, die ihn ausfüllten wie ein Gallenstein sein Wirtsorgan.
Auch jetzt musste er sich erstmal hinsetzen. Die Vorstellung, jemand Fremdes könnte in seiner Wohnung gewesen sein, hatte ihn über Gebühr erschöpft. Es war auf die Dauer zermürbend, immer auf der Hut zu sein. Das war seit mehr als zweihundert Jahren so, erst bei dem einen, dann bei den beiden nächsten, dann bei ihm. Er hatte seine Verantwortung wahrgenommen, begeistert, widerstrebend. Und er wusste, sie würden jetzt wiederkommen und ihn beauftragen, es zu tun.
Zu töten.
Oder getötet zu werden.
In Nächten wie dieser wollte er klein sein, normal, ein Punkt in der Geschichte, der vom Regen weggewaschen wird. Ein heller Fleck im Auge des Schöpfers, der mit dem nächsten Lidschlag verschwindet.
Über sich hörte er die Geräusche der neuen Mieterin. Er lauschte eine Weile darauf.
Aber er hatte sich nach dem Nichts ausgestreckt und das Böse hervorgebracht wie ein Rad, das sich dreht und in seinem Inneren eine glühende Finsternis erzeugt. Dann war er mit solcher Macht aus der Höhe herabgestürzt, dass er sich nicht mehr aus der Tiefe befreien konnte.
Seitdem hing die ganze Schar von Dämonen an ihm, und er war in die Welt gesandt, um sie auszuschalten.
Er saß unbeweglich. Draußen war es längst dunkel geworden.
Jetzt wehten die Winde über und unter der Sonne um ihn und schüttelten ihn. Es hatte nicht eine Stunde in seinem Leben gegeben, in der er glücklich gewesen war.
Er starrte in die Dunkelheit draußen, als sähe er seine eigene innere Dunkelheit. Er versuchte, sich auf die Geräusche oben zu konzentrieren, zu erraten, was die neue Mieterin gerade tat. Er erstellte ein Seismogramm der anschwellenden und wieder abschwellenden Geräusche und folgte angestrengt der Fieberkurve.
Er wollte nicht von seinen Gedanken überfallen werden.
Das gelang ihm eine Weile. Vielleicht verging eine Stunde, er besaß keine Uhr.
Dann gelang es ihm nicht mehr.
Martin Velsmann wählte, um nachzudenken, den weiteren Weg zurück nach Eltville. Er fuhr auf halber Höhe der Weinberge durch den Rheingau, passierte Martinsthal und Hattenheim und stieß wie ein Adler von den Hängen herunter nach Kloster Eberbach.
Er ging ziellos in den ehrwürdigen Mauern umher, gedankenverloren, er spürte, wie ihm ein paar Sachen entglitten. Du musst aufpassen, dass nicht alles aus den Fugen gerät, dachte er. Du siehst deine Frau
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