Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
mir sagen würdest.«
»Was soll das heißen?«, fragte der Meister verwundert.
»Ich bin seit fast vierzig Jahren Wanderderwisch. Mit der Natur kenne ich mich aus, aber die Gepflogenheiten der Gesellschaft sind mir immer noch fremd. Ich kann wie ein wildes Tier kämpfen, wenn es sein muss, aber ich selbst vermag niemandem wehzutun. Ich kann die Sternbilder am Himmel benennen, die Bäume im Wald unterscheiden und in den Menschen, die der Allmächtige nach Seinem Bild geschaffen hat, wie in einem Buch lesen.«
Schams schwieg eine Weile und wartete, bis der Meister eine Öllampe entzündet hatte. Dann sprach er weiter. »Eine der Regeln besagt: Du kannst Gott anhand von allem und jedem im Universum betrachten, denn Gott ist nicht auf eine Moschee, eine Synagoge oder eine Kirche begrenzt. Doch wenn du immer noch glaubst, wissen zu müssen, wo genau Er ist, kannst du Ihn nur an einem einzigen Ort finden: im Herzen eines wahrhaft Liebenden. Niemand hat Ihn gesehen und danach weitergelebt, so wie niemand gestorben ist, nachdem er Ihn gesehen hatte. Wer Ihn findet, bleibt für immer bei Ihm.«
Im dämmrigen Schein des flackernden Lichts wirkte Schams-e Tabrizi noch größer. Sein Haar fiel ihm in wirren Locken über die Schultern.
»Doch Wissen, das nirgendwohin fließt, ist wie abgestandenes Wasser am Boden einer alten Vase. Jahrelang habe ich zu Gott um einen Gefährten gebetet, mit dem ich das in mir angehäufte Wissen teilen kann, und endlich erfuhr ich durch eine Vision, die ich in Samarkand hatte, dass ich nach Bagdad gehen solle, um mein Schicksal zu erfüllen. Du sollst den Namen meines Gefährten kennen und wo ich ihn finde und mir beides mitteilen, wenn nicht jetzt, dann später.«
Draußen war es Nacht geworden, und durch das Fenster fiel ein Streifen Mondlicht ins Zimmer. Ich merkte, wie spät es war. Sicherlich suchte mich der Koch schon. Aber es war mir gleich. Dieses eine Mal fühlte es sich gut an, die Regeln zu brechen.
»Ich kenne die Antwort nicht, die du von mir erwartest«, murmelte der Meister. »Aber wenn ich dazu bestimmt bin, eine Auskunft zu erteilen, wird sich das zur rechten Zeit ergeben. Bis dahin kannst du hier bei uns bleiben. Sei unser Gast!«
Dankbar und demütig beugte sich der Wanderderwisch hinab und küsste Baba Zaman die Hand. Und daraufhin stellte der Meister diese absonderliche Frage: »Du sagst, du bist bereit, all dein Wissen an einen anderen weiterzugeben. Du willst die Wahrheit in der Hand halten wie eine wertvolle Perle und sie einem besonderen Menschen schenken. Aber es ist keine leichte Aufgabe für einen Menschen, das Herz eines anderen dem geistigen Licht zu öffnen. Du stiehlst Gott den Donner. Zu welcher Gegenleistung bist du bereit?«
Solange ich lebe, werde ich die Antwort des Derwischs nicht vergessen. Er zog eine Braue hoch und sagte mit fester Stimme: »Ich bin gewillt, meinen Kopf dafür zu geben.«
Ich zuckte zusammen, und es fuhr mir eiskalt über den Rücken. Als ich das Auge wieder an den Riss in der Tür drückte, sah ich, dass auch den Meister die Antwort erschüttert hatte.
»Wir haben wohl genug geredet für heute.« Baba Zaman seufzte auf. »Du bist gewiss müde. Ich rufe den jungen Novizen. Er wird dir dein Bett zeigen und dir saubere Laken und ein Glas Milch bringen.«
Schams-e Tabrizi wandte sich zur Tür, und ich spürte es bis ans Herz, dass er mich wieder ansah – nein, mehr noch: Es war, als sähe er in mich hinein, als betrachtete er die Höhen und Tiefen meiner Seele und erkundete Geheimnisse, die mir selbst verborgen waren. Vielleicht trieb er schwarze Magie oder hatte bei Harut und Marut gelernt, den beiden Engeln in Babel, vor denen uns der Koran warnte. Oder aber er besaß übernatürliche Kräfte, die es ihm erlaubten, durch Türen und Wände hindurchzusehen. Wie auch immer, es machte mir Angst.
»Du brauchst den Novizen nicht zu rufen«, sagte er, eine Spur höher als zuvor. »Ich glaube, er ist ganz in der Nähe und hat uns gehört.«
Ich schnappte so laut nach Luft, dass es die Toten in ihren Gräbern hätte aufwecken können. Völlig entsetzt war ich im Nu auf den Beinen und sauste in den Garten, um Zuflucht in der Dunkelheit zu finden. Aber dort wartete eine unangenehme Überraschung auf mich.
»Ah, hier bist du, du kleiner Lump!«, brüllte der Koch und lief mir mit einem Besen in der Hand entgegen. »Jetzt bekommst du Ärger, mein Sohn, mächtigen Ärger!«
Im letzten Moment sprang ich zur Seite und entkam so dem
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