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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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näherte, dann lief er vor und stellte sich an die Spitze. Langsam drangen sie über den Bergrand, durch das dichte Unterholz, an Gefallenen vorbei gegen die tobende Waldschlucht hinab.
    Dort ging es wie bei einer Treibjagd zu. Zwar versuchten die Tapfersten unter den Offizieren, Onbaschis und Soldaten sich immer wieder den Reisigbränden an der Lagergrenze zu nähern und sie zu zerstören, doch sie zerstörten damit nur ihr eigenes Leben. Der geschlossene Kreis des Komitatschifeuers jagte alles in die Mitte der Schluchtsohle zusammen. Offiziere schrien widersinnige Befehle durcheinander. Keiner hörte auf sie. Infanteristen und Saptiehs suchten brüllend ihre Gewehre, doch wenn sie diese fanden, konnten sie mit ihnen nichts anfangen. Jeder Schuß hätte nur den Kameraden oder Bruder getötet. Viele warfen die Waffen fort, denn sie hinderten sie beim Springen und Rennen in dieser dornig-tückischen Weglosigkeit. Selbst das innere Leben des Armenierberges schien an der grausamen Vernichtung teilzunehmen. Das Dickicht wucherte gehässig hoch und höher. Die Bäume blähten sich listig auf. Peitschende Gerten und Schlingpflanzen ringelten sich um die Söhne des Propheten und brachten sie zu Fall. Wer gefallen war, blieb liegen. Der Todesgleichmut seiner Rasse überkam ihn und er wühlte seinen Kopf ins stachlige Nest. Der Jüs-Baschi hatte mit unerschrockener Energie und flachen Säbelhieben einen Haufen der völlig verwirrten Infanteristen zusammengetrieben. Als die Offiziere, Chargen und alten Soldaten in den schwachen Atemzügen der Lagerfeuer ihren Führer erkannten, stießen sie hinzu. Ein Kern des Widerstands oder besser eines neuen Angriffs begann sich zu bilden. Der Major, mit dem Säbel auf die Höhe weisend, röhrte: »Vorwärts!« und »Mir nach!!« Seltsam erregt sah er seine Armbanduhr phosphoreszieren. Plötzlich fielen ihm die Worte ein, die er zum Kaimakam gesprochen hatte: »Ich will nicht weiter leben, wenn das armenische Lager nicht bis zum Abend liquidiert ist.« Und wirklich, er wollte nicht weiter leben in diesem Augenblick. »Mir nach!« keuchte er immer wieder. Er fühlte die Willenskraft in sich, als einzelner Mann die Katastrophe in einen Durchbruch zu verwandeln. Sein Beispiel wirkte. Und auch der Wunsch, der Hölle dieses Waldes zu entkommen, riß die Soldaten voran. Sie krochen aus den Verstecken ihrer Apathie und folgten schreiend dem Kommandanten. Unversehrt erreichten sie den oberen Ausgang der Schlucht. Mit jagendem Herzen, völlig entkräftet und ohne Wirklichkeitsbewußtsein mehr schwankten sie den Berghang empor, in das Licht der Blendlaternen und das Feuer der Zehnerschaften hinein, das sie empfing. Wie leblose Körper wurden sie hinabgeworfen. Der Jüs-Baschi merkte vorerst seine Wunde gar nicht. Er staunte nur darüber, sich plötzlich so ganz verlassen zu finden. Dann wurde ihm der rechte Arm schwer. Als er Blut und Schmerz fühlte, war er zufrieden, ja fast glücklich. Nun erschien ihm seine Schande und sein Schaden weit geringer. Er schleppte sich still und mit geschlossenen Augen zurück. Irgendwo zusammenfallen, hoffte er, und nichts mehr wissen.
    Als der Kampflärm vom wiedereroberten Graben sich abwärts zog, war damit auch das Signal für die Stadtmulde gegeben. Ein Feuerzeug flammte auf. Eine der petroleumgetränkten Fackeln begann knisternd zu brennen und innerhalb der nächsten Minuten entzündeten sich an der ersten Tausende von anderen Fackeln. Die meisten Lagerbewohner waren dem Beispiel Haiks, Stephans und der übrigen Knaben gefolgt, die, in jeder Hand einen dieser Brände, sich jetzt in langer Front in Bewegung setzten. Eine solche Lichtprozession hatte diese Erde noch nicht gesehn. Jedermann, der die prasselnde Fackel vor sich hertrug, erschauerte unter der unbegreiflichen Heiligkeit, die sich in seinem Innern verbreitete. Dieses Licht war nicht mehr wie die einzelne Flamme eine Verschärfung der unendlichen Nacht, sondern als Lichtfeuer eines ganzen Volkes legte es in die Finsternis des Raumes eine glorreiche Bresche. Feierlich langsam drangen die langen Reihen und Haufen vor, als sei ihr Ziel kein Kampfort, sondern eine Stätte des Gebetes.
    Unten in den Dörfern, in Yoghonoluk, Bitias, in Habibli, Azir, in Wakef und Kheder Beg, ja selbst weit im Norden in Kebussije, dem Immendorf, schlief keiner von den Nutznießern der Landnahme. Als das wilde Knattern des Überfalls die Ortschaften erreichte, hatten die wehrhaften Männer sogleich nach den Flinten gegriffen,

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