Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
soweit sie sich nicht im Dienste befand, eine erschreckende Regungslosigkeit. Bis gegen Mittag starben drei alte Leute und zwei Säuglinge. Die Mütter hielten die armen Kreaturen fest an ihre leeren Brüste gedrückt, bis sie kalt und steif wurden.
    Der Wechselsturm der letzten Tage hatte sich heute zur Eindeutigkeit entschlossen. Er fuhr in kurzen Stößen vom Südosten her über die Hochfläche. Die Stadtmulde lag nicht tiefgebettet genug, um gegen den feinen Sandschleier Schutz zu bieten, in den der Wind gehüllt war. Oft hatte es den Anschein, als wolle er die riesigen Gluthalden, die weithin die Brust des Damlajik bedeckten, von neuem entflammen. Noch einmal warf sich mörderische Steppenhitze mit trockenen Drosselgriffen über alles Leben. Das Laub der Eichen und Buchen war längst verdorrt. Doch auch die immergrünen Lederblätter des Buschwerks und der Klettergewächse wollten sich schließen wie verrunzelte Hände. Die Menschen aber in ihrer guten Betäubung litten kaum mehr unter dem Wetter. Sie merkten es nicht einmal, daß Mundhöhle, Gaumen, Zunge und Rachen von den kristallharten Körnchen des Küstenstaubes entzündet waren.
    Im Gegensatz zu dem Lagervolk besaßen die Männer in den Stellungen draußen noch Leben und Tatkraft genug. Auch sie waren alles eher als satt. Das ausgeteilte Fleisch und die Konserven des Hauses Bagradian reichten nicht hin, um den Hunger auch nur in bescheidenem Maße zu stillen. Die Entbehrung aber erregte die Verteidiger in eigentümlicher Weise, sie erzeugte ein trunkenes Verlangen nach Kampf, nach Entscheidung. Die neue Ordnung der Dinge hatte den Vorteil, daß Gabriel Bagradian den nächtlichen Handstreich vorbereiten konnte, ohne sich darum zu kümmern, ob sich das Volk entschließen werde, den Damlajik zu verlassen. Seiner Leute war er sicher. Und heute nachts wollte er den großen Schlag führen. Der Vorstoß ins Tal war aufs peinlichste durchdisponiert. Nichts hatte er vergessen. Jeder Mann und jede Minute war eingeteilt und ausgenützt. Gabriels gelehrter Hang zum Theoretischen überließ nichts dem Glück. Immer neue Widerstände erfand er, immer wieder setzte er eine Möglichkeit gegen die andre. Die Rückzuglinie der eigentlichen Überrumplungsgruppe war durch ein fein ausgeklügeltes System von Komitatschis gesichert, die ihre Posten schon drei Stunden vor der Unternehmung beziehen sollten. Doch nicht genug damit! Gabriel Bagradian entschloß sich, die Türken auf den Nordhöhen den ganzen Tag über durch Scheinangriffe und jähe Feuerüberfälle in Unruhe zu versetzen, damit sie soviel Truppen wie möglich vom Tal abziehen müßten. Unerwarteterweise kamen die Türken seinen taktischen Wünschen entgegen. Ihre Vorbereitungen ließen unschwer darauf schließen, daß sich binnen vierundzwanzig Stunden alles entschieden haben mußte. Auf den Höhen jenseits des Sattels herrschte das Leben des Stellungskrieges vor einer Offensive. Die Armeniersöhne konnten drüben zwischen Bäumen und Strauchwerk ängstlich vorzögernde Reihen von Infanteristen beobachten, die auf ihren Schultern dicke entlaubte Baumstämme schleppten, welche sie auf den Höhenrand hinpoltern ließen. Ohne Zweifel sollten diese glatten mächtigen Stämme als bewegliche Deckungen dienen, wenn die Schwarmlinien zum Angriff vorkrochen. Bagradian und Tschausch Nurhan gingen im vordersten Graben von Mann zu Mann, die Gewehraufsätze auf die richtigen Entfernungen hin prüfend. Wenn sich auf der Gegenseite einer der Türken zu weit zwischen den Bäumen vorwagte, gaben sie vereinzelte Schußbefehle. Auf diese Weise fielen bis zur Mittagsstunde einige Feinde. Die tödliche Kugel wurde jedesmal mit einem wilden regellosen Feuer beantwortet, das über die Köpfe der Verteidiger hinwegfuhr oder in den Steinhaufen des Schanzwerks stecken blieb. Die Kämpfer sahen mit wildem Stolz, daß die neuen Sicherungen so stark waren, daß sie nur durch Artillerie zusammengeschossen werden könnten. Für das Vorhandensein dieser Artillerie sprach aber noch immer kein Anzeichen. Die seltsame Trunkenheit des Hungers erzeugte bei den Armeniersöhnen Tollheitsausbrüche. Sie wollten mit allen Mitteln die Türken zu einem Angriff herauslocken. Sie kletterten aus den Gräben, sie tanzten auf der Deckung, manche wagten sich weit ins Hindernisfeld vor; Tschausch Nurhan und die Unterkommandanten hatten alle Mühe, die Ungebärdigen vor verrückten Wagnissen zurückzuhalten. Die Türken ließen sich nicht herausfordern. Dem

Weitere Kostenlose Bücher