Die Vinetaner - Rusana
blass aus und in seinen braunen Augen lag Unsicherheit. Ohne nachzudenken, legte Rusana ihre Hand auf seine stoppelige Wange - und hätte sie beinahe zurückgezogen. Sie war nicht auf die Hitze vorbereitet, die ihren Arm hinaufschoss, als sie seine Haut berührte. Auch nicht auf die Emotionen, die ihr Herz überfluteten.
Christian sah ihr in die Augen, versank mit hämmernden Herzen in ihnen und legte seine Hand über ihre. Er räusperte sich, wollte ihr sagen, was er für sie empfand, doch er sah die Angst in Rusanas Augen, die Angst vor ihren Gefühlen für ihn. Sie dachte an Marco, also behielt er seine Empfindungen für sich. Er zog ihre Hand zu seinen Lippen und hauchte einen Kuss auf die Innenfläche, bevor er sie freigab und heiser erklärte:
„Wir werden in einem Stück drüben ankommen. Was soll jetzt noch passieren? Marco bekommt mein Blut und alle werden glücklich sein.“
‚Außer ich’ , fügte er in Gedanken hinzu, doch er lächelte gequält.
„Ja“, hauchte Rusana wenig überzeugt. „Dann lass uns gehen.“
Christian nickte und setzte sich in Bewegung, obwohl sich jede Faser seines Körpers dagegen wehrte, zu seinem Großvater zu gelangen. Warum sollte er sich für ihn in Lebensgefahr begeben und ihn retten? Weil Rusana es ihm niemals verzeihen würde, wenn er es nicht versuchte. Egal, was er tat, er war immer der Verlierer.
Bevor Rusana Christian folgte, schloss sie ihre Augen und konzentrierte sich auf ihr Umfeld. Sie suchte nach Gefahren, doch sie spürte keine Bedrohung. Dennoch saß ein dicker Kloß in ihrem Magen, denn sie hatte das Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren würde. Sie hoffte, dass diese Vorahnung nur ihren überreizten Sinnen und ihrer Angst um Christian entsprang.
Egbert und Ruven standen angespannt neben dem Rettungshubschrauber, in dem Marco lag. Ruven hatte nach der Festnahme von Otruna nicht gewagt, ihn im Schloss zurückzulassen, da er nicht wusste, wem er trauen konnte. Er fühlte sich besser, wenn Marco in seiner Nähe war, also hatte er ihn samt zwei seiner Ärzte mitgenommen.
Ruven hatte Egberts Nachricht erst am Morgen erhalten, als er nach Marco gesehen hatte, und Naku mit seinem Schnabel aufgeregt gegen die Scheibe des Krankenzimmers klopfte. Den gestrigen Tag und auch die letzte Nacht hatte er sich in die Tiefen des Schlosses zurückgezogen, um sich haltlos seiner Depression hinzugeben. Er verweigerte sich selbst das Sonnenlicht, zog die Dunkelheit vor, weil er Marco durch seinen unbesonnenen Fluch in die Finsternis verbannt hatte - ohne Hoffnung auf Rettung. Bis heute hatte Ruven nicht daran geglaubt, dass es seiner Schwester gelingen würde, einen von Marcos Nachkommen zu finden. Jetzt hatte sie jemanden gefunden, doch Ruven befürchtete, dass das nichts nutzen würde. Er hatte die Aufhebung des Fluches durch seine Bedingung, die Rusana und den Nachkommen betraf - egal ob dieser männlich, weiblich, jung oder alt war - so gut wie unmöglich gemacht. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn die beiden die Bedingung erfüllten.
In den letzten zwei Jahren war Ruven oftmals kurz davor gewesen, Marco eigenhändig von dem Fluch zu befreien, indem er ihm das Leben nahm. Aber etwas hatte ihn davon abgehalten. Ruven konnte nicht sagen, ob es seine eigene Feigheit gewesen war, oder doch ein winziger Funke Hoffnung, der trotz aller Schwermut in einem Winkel seines Herzens glimmte. Heute Morgen, als Naku ihm die Botschaft überbracht hatte, war er jedenfalls überaus dankbar gewesen, dass er sein Vorhaben noch nicht in die Tat umgesetzt hatte. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung für Marco.
Egbert musterte das Gesicht seines Freundes, der angespannt auf die Salzsteppe blickte. Ruvens Haut wirkte kränklich blass und die dunklen Ringe unter seinen Augen zeugten von schlaflosen Nächten. Seinen schulterlangen, schwarzen Haaren fehlte der frühere Glanz, doch in seinen blauen Augen lag ein Schimmer, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.
„Es wird alles gut gehen. Der Fluch kann gebrochen werden, Ruven.“
Als dieser antwortete, schwangen in seiner Stimme Hoffnung und Verzweiflung mit:
„Das hängt von Rusana ab.“
„Ich weiß“, erwiderte Egbert und blickte zu Christian und Rusana. „Aber erst einmal müssen die beiden sicher hier ankommen. Sie erreichen gleich die Stelle, an der all meine Alarmglocken geläutet haben. Ich konnte zwar nichts entdecken, aber mich lässt das Gefühl nicht los, dass sie in Gefahr sind. Ich werde ihnen entgegen gehen und du
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