Die Vipern von Montesecco
erster.
»Das gibt es nicht«, sagte jemand.
»Da findest du eher eine ehrliche Haut in der Regierung.«
»Er war verletzt«, sagte Vannoni, »er konnte nicht ...«
»Er hatte eine Platzwunde«, unterbrach Franco Marcantoni, »nicht zwei gebrochene Beine.«
»Und er ging normalerweise auch nicht auf dem Kopf.«
»Er war benommen«, sagte Vannoni. »Vielleicht wollte er Hilfe holen, hat sich aber verlaufen, und dann begann das Gift zu wirken. Er wurde immer schwächer.«
»Giorgio war keiner von außen.«
»Er lebte vierzig Jahre hier.«
»Er kannte jeden Grashalm im Umkreis von zehn Kilometern.«
»Selbst wenn er das Gedächtnis komplett verloren hätte, wären seine Beine allein nach Hause gelaufen.«
Von allen Seiten prasselten die Gegenargumente auf Vannoni ein und verfestigten die Meinung, die er in Frage stellte. In der vereinten Abwehr seiner Einwände verflüchtigten sich die Zweifel, baute sich die gemeinsame Front auf, die die Dorfbewohner dem unbegreiflichen Tod entgegenzusetzen gedachten. Doch noch war sie zu sehr Gefühl, zu sehr bloß Wort, um wirklich halten zu können. Sie verlangte nach Fleisch und Blut, nach einem Gegner, der bewies, daß man auf der richtigen Seite stand, wenn man sich nur klar von ihm abgrenzte. Das Dorf brauchte einen Sündenbock, und es schien, als habe Carlo Lucarelli ihm schon den Namen Matteo Vannoni gegeben.
Vielleicht spürte Vannoni das. Vielleicht verleitete ihn sein Gespür dazu, zu sagen, was nicht hätte gesagt werden dürfen. Nicht an diesem Abend. Und vor allem nicht von ihm.
Vannoni sagte: »Und wenn er gar keine Hilfe holen wollte?«
»Was?« fragte Antonietta. »Was hast du gesagt?«
»Nichts«, sagte Vannoni, doch seine Worte tanzten wild durch die Abendluft, hallten von der Kirchenfassade wider, von der Kapellenmauer, hin und her, sie fielen von den Bäumen nieder und flatterten unter den Stühlen hervor. Und sie hatten sich in die Köpfe eingenistet. Sie waren da, sie waren überall.
»Sag, was du gemeint hast!« sagte Paolo Garzone drohend.
»Wenn er sieben Stunden Zeit gehabt hat, Hilfe zu holen, und es nicht getan hat, dann wollte er vielleicht keine«, sagte Vannoni. »Vielleicht kam es Giorgio gerade recht, daß er von einer Viper gebissen wurde. Vielleicht hat er sich sogar absichtlich beißen lassen. Komm, Viper, da, mein nackter Arm, beiß zu! Vielleicht wollte er sterben und hat nur keinen Mumm gehabt, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Vielleicht ...«
»Hör auf!« sagte Elena, doch Vannoni war nicht mehr zu stoppen. Er wurde lauter.
»... vielleicht hielt er es für angenehmer, sich stundenlang in Giftkrämpfen zu Tode zu quälen, als mir unter die Finger zu kommen, und vielleicht ...«
Vannoni sprang von dem Mäuerchen herab und schrie: »... und vielleicht, vielleicht, vielleicht hatte er damit sogar verdammt recht!«
Vannoni spuckte aus, bahnte sich einen Weg durch die Sitzenden, stürmte den Weg rechts vom Gedenkstein zu Ehren Don Iginos hinauf und verschwand im Dunkel. Der Grillengesang beherrschte die Nacht. Antonietta Lucarelli saß wie tot auf ihrem Stuhl.
Carlo Lucarelli sagte: »Wenn er Giorgio umgebracht hat, wird er dafür büßen. Und wenn es das letzte ist, was ich in diesem Leben zu Ende führen werde.«
Dann sagte Paolo Garzone: »Und außerdem: Hätte sich Giorgio denn nach dem Biß den Arm abgebunden, wenn er sterben wollte?«
Matteo Vannoni spürte etwas an seinem Arm rütteln. Er fuhr hoch, wußte nicht, wo er war, erinnerte sich dann, zum Schlafen eine Decke auf den Steinfliesen des Wohnzimmers ausgebreitet zu haben. Einen Moment lang glaubte er, Maria kauere im Dunkel neben ihm. Er brauchte ein wenig, bis er die Stimme einordnen konnte, die ihm zuflüsterte: »Warst du es?«
»Catia?« Vannoni fragte sich, was sie hier wollte. Mittenin der Nacht. Sie hatte sich geweigert, zu ihm zurückzukommen. Sie hatte gesagt, sie wolle vorläufig weiterhin bei den Sgreccias wohnen.
»Hast du Giorgio umgebracht?« fragte Catia.
»Was?«
»So wie meine Mutter damals?«
»Nein«, sagte Vannoni und merkte im selben Augenblick, daß das zuwenig war, daß es nicht überzeugend klang, daß auch ein Mörder nichts anderes gesagt hätte, und er wollte hinzusetzen, daß er sie ja verstand, sie und ihre Verbitterung, daß es ihn aber trotzdem unendlich traurig stimmte, wie seine eigene Tochter von ihm dachte, aber er sagte nur: »Deswegen weckst du mich mitten in der Nacht?«
»Ich muß es wissen.«
Sie muß es wissen,
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