Die Vipern von Montesecco
so ging das weiter. Tag für Tag verlangte Anna La Pazza – wie sie von den Wächtern bald genannt wurde – wegen der Entführung des DC-Vorsitzenden eingesperrt zu werden. Vielleicht hatten die Wächter mit ihrem Spitznamen recht und sie war tatsächlich verrückt, doch das erklärt noch gar nichts. Verrückt sind viele, und auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Ist es nicht zu einfach, sich damit zufriedenzugeben?«
»Was soll das?« fragte Antonietta.
»Ich habe damals ein paar Tage gebraucht, aber dann habe ich Anna La Pazza verstanden«, sagte Vannoni. »Sie war genau wie ich davon überzeugt, daß das System beseitigt werden mußte, und sie war genausowenig wie ich zu kühl geplanter, rücksichtsloser Gewalt fähig. Nur hat sie sich deshalb schuldig gefühlt. Andere trieben die Revolution voran, kämpften, und sie tat nichts, was zählte, weil sie zu feige war. Für ihre Feigheit mußte sie sich bestrafen. Gerade weil sie die Tat nicht begangen hatte und nie begehen könnte, wollte sie deren Konsequenzen tragen.Wenigstens das. Es war ihre Art zu sagen, daß sie gern gehandelt hätte, aber nicht den Mut dazu aufbrachte.«
»Und du glaubst, so ist es auch bei Catias Geständnis?« fragte Marisa Curzio.
Vannoni nickte.
»Danke, Matteo!« sagte Angelo Sgreccia.
»Man kann euch die Wahrheit links und rechts um die Ohren schlagen, und ihr wollt sie immer noch nicht hören«, sagte Catia. »Doch ich spiele da nicht mit. Ich habe die Sprühdose nämlich ...«
»Es reicht jetzt, Kindchen!« sagte Costanza Marcantoni.
»Geh nach Hause, Catia!« sagte Angelo. Catia rührte sich nicht vom Fleck, doch sie sprach auch nicht weiter. Ein Blick in die Runde genügte, um sie begreifen zu lassen, daß der Kampf in den Augen der Dorfbewohner entschieden war. Zumindest vorläufig. Tagelang war man überhaupt nicht vorangekommen, und nun, da die Dinge ins Laufen gerieten, fielen zwei Geständnisse gleichzeitig vom Himmel. Keiner war geneigt, sich davon irre machen zu lassen. Man mußte nur zwischen zwei Alternativen entscheiden. Catia war eine überforderte, schwangere Minderjährige, deren Motive Vannoni plausibel erklärt hatte. Ihr gegenüber stand einer, der sich schon vorher mehr als verdächtig gemacht hatte. Die Entscheidung fiel leicht. Angelo Sgreccia durfte sich die blutrote Schmähung, die Carlo Lucarelli in den Tod getrieben hatte, zuschreiben.
Fraglich blieb höchstens, ob das alles war, was er zu beichten hatte, oder ob er noch einen Mord auf dem Gewissen hatte. Ivan Garzone schnitt das Lammfleisch vor sich klein. Wie beiläufig fragte er: »Und wie war das draußen bei Giorgios Olivenbäumen?«
»Bei allem, was mir heilig ist«, sagte Angelo Sgreccia, »ich habe euch die Wahrheit gesagt. Ich habe Giorgio dort nicht angetroffen und schon gar nicht umgebracht.«
Noch bevor jemand nachhaken konnte, schob Assunta Lucarelli den Teller von sich und sagte: »Ihr wißt, was mein Mann vor der geschändeten Todesanzeige geschworen hat: Giorgio wird so lange nicht beerdigt, bis wir den haben, der das verbrochen hat. Ich werde dieses Schwein Buchstaben für Buchstaben ablecken lassen, bevor ich ihm den Schädel einschlage und das kranke Gehirn vor dem Sarg meines Sohnes zerstampfe. Das waren Carlos Worte, und dann ist er auf sein Motorrad gestiegen und nicht wiedergekommen. In seinem Namen klage ich dich an, Angelo Sgreccia, und ich verlange blutige Rache.«
Wort für Wort hatte sich der letzte Schwur ihres Mannes in Assuntas Hirn gebrannt. Dutzende, Hunderte Male mußte sie ihn sich in schlaflosen Nächten vorgesagt haben. Jetzt stand er in ihre Gesichtszüge eingemeißelt, er sprühte aus ihren Augen, und selbst der abgezehrte Körper in dem schwarzen Trauerkleid schien aus noch glühendem Vulkangestein zu bestehen.
Doch während ihre verzweifelte Trauer in den vergangenen Tagen keine Gegenwehr zugelassen hatte, rückten die anderen nun von ihr ab. Es geschah wortlos und fast unmerklich, war nur zu erahnen an den etwas zu energischen Handbewegungen, mit denen sich Milena Angiolini die Haare hochsteckte, an dem Blick Lidia Marcantonis, der die Kirchenfassade über das zugemauerte Fenster bis zum Firstkreuz hochkletterte, und daran, daß einer nach dem anderen zu essen begann. Sie schlangen das Lammfleisch hinab, als hätten sie nicht schon genug zu verdauen.
Nicht das Wort »Rache« schreckte sie. Das Strafgesetzbuch mit seinen unzähligen Paragraphen mochte für die große Welt, in der keiner so recht
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