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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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verstand, was er womit anrichtete und wem er wieviel damit schadete, geeignet sein, doch nicht in Montesecco. Hier gab es keine anonymen Opfer, hier gab es einen Nachbarn, dem man etwas antat und der darauf reagieren würde. Er oder seine Familie.Auge um Auge, Zahn um Zahn, das hatte schon seine Richtigkeit. Es war die Art, in der sich Ordnung und Gleichberechtigung zwischen Menschen herstellte, die in einer engen Gemeinschaft lebten. Rache war ein Weg, Recht zu schaffen. Gerade deshalb durfte man sie nicht leichtfertig ausüben.
    »Carlo ist bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen«, sagte der alte Curzio.
    »Er wäre gar nicht aufs Motorrad gestiegen, wenn ...« Assuntas Stimme zitterte.
    »Was hat Angelo getan? Er hat einen Satz auf ein Plakat gesprüht«, sagte Franco Marcantoni.
    »Er hat unseren toten Sohn geschmäht ...«, stieß Assunta hervor.
    »Das genügt nicht«, sagte Benito Sgreccia ruhig.
    »... nachdem er ihn umgebracht hatte!«
    »Das wissen wir nicht«, sagte Costanza Marcantoni.
    Assunta starrte auf das Lammkotelett, das unberührt vor ihr im Teller lag. Sie griff nach dem Messer und ballte die knochige Faust um den Griff. Sie sah Angelo nicht an, doch jeder wußte, daß sie sich ausmalte, wie sie zustach und zustach und die Klinge in seinen Eingeweiden herumdrehte, so daß das Blut über die Piazza spritzen und die Gasse hinunterströmen und die Piazza überschwemmen und immer höher und höher steigen würde, bis die rote Schrift auf der halb abgerissenen Todesanzeige in Angelos Blut ertränke.
    »Noch nicht«, sagte Franco Marcantoni.
    Assunta senkte die Spitze des Messers auf die Tischplatte ab und zog die Klinge mit aufreizender Langsamkeit durch. Das Blech der Platte kreischte unter dem Stahl auf. Mit ihrem Zeigefinger fuhr Assunta die eingeritzte Linie nach und setzte dann neu an. Als sie fertig war, war ein Doppel-V für Evviva entstanden. Niemand sagte etwas.
    Assunta prüfte die Schneide des Messers und ließ es dann zu Boden fallen. Sie sagte: »Schund! Früher hattenwir noch ordentliche Messer, die schnitten, wenn es etwas zu schneiden gab. Und heute? Alles Kinderkram.«
    Mühsam stand sie auf. Der Haßausbruch schien ihre Kraft verzehrt zu haben. Mit gebeugtem Rücken schlurfte Assunta um den Tisch und auf die Gasse zu, die zu ihrem Haus hinabführte.
    »Warte!« sagte Costanza Marcantoni. »Angelo hat die Schmähung gestanden. Ging es Carlo bei seinem Schwur nicht vor allem darum? Und wäre es dann nicht an der Zeit, ihn und Giorgio jetzt zu begraben?«
    Assunta wandte sich langsam um. Sie deutete auf Angelo und sagte mit müder Stimme: »Und Giorgios Mörder steht dabei und faltet die Hände?«
    »Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee«, sagte Costanza. »Früher glaubte man, daß die Wunden einer Leiche wieder zu bluten beginnen, wenn der Mörder vor sie tritt.«
    »Aberglauben!« sagte Marisa Curzio.
    »Das haben wir vom Flug der Vipern auch gedacht«, sagte Costanza.
    »Sollen wir sie begraben?« Alle Blicke richteten sich auf die beiden Lucarelli-Frauen.
    Antoniettas Augen verrieten nicht, was sie dachte, doch sie nickte stumm.
    Assunta sagte: »Ich bin eine schwache alte Frau, die nicht mehr lange leben wird. Aber ich verspreche dir, Angelo, noch auf dem Totenbett werde ich dich verfluchen und Gott lästern und beten, daß er mir das Paradies versperrt, damit ich alle Teufel der Hölle auf dich hetzen kann.«
    »Wir bahren sie in der Kirche auf, bis der Pfarrer die Totenmesse liest«, sagte Lidia Marcantoni.
    Franco sagte: »Nehmt die Särge mit, wenn ihr die Leichen aus der Rapanotti-Gruft holt! Und Paolo, du paßt auf Angelo auf!«
    »Darauf kannst du Gift nehmen«, brummte Paolo.

6
    Ungeheuer ist viel und nichts
    ungeheurer als der Mensch.
    Sophokles: Antigone, Verse 332 – 333

Die Pfarrkirche von Montesecco ist ein schlichtes, einschiffiges Gebäude, das der Maria Assunta geweiht ist. Die Ursprünge verlieren sich im Dunkel der Geschichte, doch scheint schon vor dem Jahr 409 unserer Zeitrechnung eine christliche Kultstätte vorhanden gewesen zu sein, die vom römischen Suasa abhängig war, wo der Überlieferung zufolge der heilige Apostel Petrus das Evangelium verkündet hat. Im Lauf der Jahrhunderte wurde die Kirche mehrmals zerstört und wiederaufgebaut. Erwähnenswerte Kunstschätze, wenn es denn je welche gegeben haben sollte, gingen dabei verloren.
    Ihr Teil dazu beigetragen haben die Napoleonischen Truppen, die 1809 Montesecco in Brand steckten, nicht

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