Die Vipern von Montesecco
ohne vorher aus der Kirchenausstattung und dem Mobiliar einen Scheiterhaufen auf der Piazza zu errichten und damit ungewollt ein Wunder zu ermöglichen. Nach dem Brand fand sich nämlich in der Asche ein zwar vom Feuer geschwärzter, sonst aber völlig unversehrter Christus aus Pappmaché wieder, während alles andere den Flammen zum Opfer gefallen war. Von da an genoß das Kruzifix, ein künstlerisch dezentes Werk des 17. Jahrhunderts, die tief empfundene Verehrung der Gläubigen weit über Montesecco hinaus. Noch 1809 hängte man es wieder mit allen Ehren in der Kirche auf und schaffte trotz aller Not zwei goldüberzogene Engelfiguren an, die es anbetend flankierten.
Daß man sich ein weiteres Wunder erwartete, hätten wohl alle Einwohner Monteseccos entrüstet zurückgewiesen, und sei es nur – wie es Lidia Marcantoni kundzutun beliebte –, weil Gott in seinem unerforschlichen RatschlußWunder gerade dann bewirke, wenn man am wenigsten darauf zähle. Tatsache war jedoch, daß die beiden Särge im Abstand von etwa einem Meter unter dem Christus am Kreuz aufgestellt worden waren. Auf der glänzenden Lackoberfläche spiegelten sich trotz des von oben einfallenden Lichts zwei brennende Altarkerzen. Die Sargdeckel waren verschlossen.
Angelo Sgreccia sollte sie öffnen, sobald alle sich auf der Orgelempore versammelt hatten. Dort schien der Abstand groß genug, um die Leichenprobe nicht zu verfälschen. Zwar glaubte niemand wirklich daran, daß die Vipernbißwunde zu bluten beginnen würde, doch erstens hatte man in den vergangenen Tagen schon genug erlebt, was vorher unmöglich erschienen war, und zweitens hatte Milena Angiolini mit dem Verweis auf einen alten englischen Kriminalfilm zu bedenken gegeben, daß ein Mörder manchmal beim Anblick seines Opfers zusammenbreche und freiwillig gestehe.
»Und auch wenn es Angelo Sgreccia nicht getan hat«, hatte der alte Curzio ergänzt, »wer einen Mord so bejubelt wie er, der soll dem Toten auch ins Gesicht sehen müssen.«
Angelo Sgreccia war ruhig, fast zu ruhig. Seit der Auseinandersetzung mit Catia hatte er kein Wort mehr gesprochen. In sich versunken saß er auf der hintersten Kirchenbank, hatte keinen Blick für Paolo Garzone, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte, immer bereit, ihm bei der bloßen Andeutung eines Fluchtversuchs mit seinen mächtigen Pranken die Seele aus dem Leib zu quetschen. Doch Angelo dachte nicht an Flucht. Als Paolo ihn dazu aufforderte, trat er gehorsam aus der Kirchenbank und ging zu den beiden Särgen vor. Am Fußende des rechten blieb er stehen. Sein Blick suchte die Christusfigur mit den Wundmalen an Seite und Handflächen. Paolo Garzone öffnete die kaum sichtbare Wandtür in der Nordostecke der Kirche, stieg die Treppe empor und gesellte sich zu den anderen.
Über der Balustrade der Empore reihte sich Gesicht an Gesicht. In der Mitte, direkt vor den silbernen Orgelpfeifen, standen die Lucarellis unbeweglich und erhaben wie eine antike Skulpturengruppe. Im Arm der Mutter klammerte sich Sonia fest und legte den Kopf an ihre Schulter. Von der anderen Seite schmiegte sich Sabrina an Antonietta. Mit kaum merklichem Abstand folgte Assunta. Das schwarze Spitzentuch, das sie sich übers Haar geworfen und vor der Brust übergeschlagen hatte, ließ sie wie einen Steinblock wirken, in den ein übertrieben faltiges Greisengesicht viel zu tief hineingemeißelt worden war. Schräg hinter ihr tauchte Paolos Gesicht auf.
Benito Sgreccia hatte die Augen halb geschlossen. Mit beiden Händen stützte er sich auf der Balustrade ab. Auf ihn flüsterte Gianmaria Curzio ein, gefolgt von seiner Tochter Marisa, Fiorella Sgreccia und Elena, die als eine der wenigen nicht nach unten blickte, sondern an Catias verwaschener Bluse herumzupfte, als müsse sie einem Brautkleid zum perfekten Sitz verhelfen. Ganz an der Außenwand lehnte Matteo Vannoni. Seine Finger spürten den Umrissen einer Holzeidechse nach, die er aus seiner Hosentasche gezogen hatte.
Auf der rechten Seite der Empore versuchten Marta und Ivan Garzone ihre beiden Kinder davon abzuhalten, sich wie Vipern zwischen den Beinen der anderen durchzuschlängeln. Der Americano drängte sich zwischen seine Frau und Milena Angiolini, deren Haar im schräg einfallenden Sonnenlicht golden glänzte. Sie überragte die drei Geschwister Marcantoni um einen halben Kopf. Lidia hatte die Hände wie zum Gebet gefaltet, Franco fixierte die beiden Särge unten im Kirchenschiff, und Costanza grummelte über
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