Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
Vater wird Eure Gesellschaft heute abend brauchen. Ihn schmerzt der Verlust Columbas.«
»Unsinn.« Juliana schüttelte den Kopf. »Was bedeutet sie ihm schon?«
»Aber der Freiherr«, wandte Melina zaghaft ein, »er muß bei Laune gehalten werden. Was, wenn er auf einem Schadensgeld besteht, weil Columba das Verlöbnis brach?«
Juliana schwieg und nahm vor einem Spiegel Platz. Melina eilte herbei, um mit einem einsam flackernden Talglicht die Kerzen neben dem Spiegel und in den Wandhaltern zu entzünden. Das milde Licht der Kerzenflammen schien ihre Herrin zu besänftigen. Wie gewohnt löste sie die Haube von ihrem Kopf, zog die Nadeln aus dem Zopfkranz und ließ ihre Haare herabfallen. »Kämme mich«, befahl sie Melina.
Das schwarze Mädchen strich sanft die Haare glatt und griff zum Hornkamm.
»Ich will den roten Damast tragen, dazu das goldbestickte Mieder und darüber den schwarzen Samtumhang«, wies Juliana ihre Dienerin weiter an.
»Den Samtumhang? Weshalb? Das Haus ist warm, Ihr braucht ihn nicht. Das Schwarz ist so trübsinnig, es könnte dem Freiherrn mißfallen.«
Juliana stieß die Hand der Magd fort und drehte sich wütend um. »Was hast du nur mit diesem elenden Freiherrn? Glaubst du etwa, ich sollte nun den Platz meiner törichten Schwester einnehmen? Dieser feiste Geck soll sich nur zurück in sein Nebelland beim Meer scheren, wir brauchen ihn nicht, Vater wird ihn schon auszahlen.«
Melina faßte neuen Mut. »Ich hörte, daß Euer Vater so reich nicht mehr ist. Bemerkt Ihr nicht, wie besorgt er zuletzt immer wieder schien? Die Tage und Nächte, die er in seinem Kontor verbrachte, haben seine Gesundheit angegriffen. Besser wäre es, wenn Ihr sobald als möglich einen Mann erhören würdet und ...«
Juliana erhob sich von ihrer Bank, sie zitterte vor Wut, während sie ganz nahe an die Magd herantrat. »Du vergißt dich, Melina. Bilde dir nur nichts auf dein einmaliges Beisammensein mit dem Diakon ein. Er liebt dich nicht, ich weiß es. Und wenn du meinst, daß unsere gemeinsamen Nächte bei den Engeln dir das Recht geben, über mein Leben zu bestimmen ...«
»Das, das wollte ich nicht, ich fürchte nur ...«
»Du fürchtest, daß ich den Diakon für mich gewinnen könnte, nicht wahr? Du eifersüchtige Schlange.« Juliana ergriff eine schwere silberne Bürste und schlug sie in Melinas Gesicht. Einmal, zweimal holte sie aus, bis die Magd stöhnend zusammensank und bewußtlos am Boden liegenblieb.
Juliana erschrak, als sie es sah. Dieser verfluchte Diakon trieb sie zu den gröbsten Bösartigkeiten. Er mußte endlich aus ihrem Leben verschwinden, sie mußte seine Macht brechen, bevor sie noch rasender, noch grausamer werden würde.
Sie lief zu einer Truhe, öffnete den Deckel und hob fein gefaltete Gewänder und Mieder heraus, dann legte sie den Kleiderstapel auf ihr Bett, dachte kurz nach, wählte aus, entschied sich anders und kleidete sich endlich an. Den schwarzen Umhang um die Schultern trat sie in den Korridor.
Sie schaute sich kurz um, und als niemand zu sehen war, lief sie leise zum Kontor des Vaters und klopfte. Als keine Antwort kam, öffnete sie die Tür und eilte zum Schreibtisch hinüber. Sie fand rasch, was sie suchte, steckte es in ihre Rocktasche und trat wieder in den Korridor. Noch einmal schaute sie sich um und entdeckte Mertgin, die eben aus der Hauskapelle trat. Die alte Frau schien zutiefst bekümmert. Die Augen auf den Boden geheftet und mit gebeugten Schultern schlich sie über den Gang.
Juliana vertrat ihr den Weg. »Ich suchte eben meinen Vater, doch er ist nicht hier. Wenn du ihn siehst, sag ihm, daß ich nach dem Gebet direkt zu Bett gehe. Ich fühle mich nicht wohl.«
Mertgin hob kaum die Augen, nickte nur stumm, dann ging sie weiter. Albernes Weibsbild dachte Juliana abfällig und betrat die Hauskapelle.
Draußen im Gang verharrte Mertgin für einen Moment. Erst jetzt erreichte das Bild ihre Gedanken. Warum hatte Juliana einen schwarzen Mantel getragen? Genau wie damals Columba, als sie des Morgens ausbrach, zum Schlittschuhlauf. Damals. Mertgin schüttelte wieder traurig den Kopf. Columba, dumme, geliebte Columba.
Es hatte nicht lange gedauert, bis auch ihr vertrocknetes Herz es gefühlt hatte: Das Mädchen liebte diesen elenden Lazarus. Gegen alle Sitte, gegen allen Verstand, und dafür hatte Gott sie gestraft. Der Herr war gerecht. Der Herr war grausam. Mertgin schlurfte weiter in Richtung Treppe. Ihr Täubchen von der Welt ausgesperrt in einem Konvent.
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