Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
plötzlich um die Ecke bog, hielt sie auf. Rasch schlüpfte sie in eine Mauernische, um nicht von dem Mann entdeckt zu werden. Der Kerl stieg vom Bock seines hochbeladenen, stinkenden Ochsenkarrens, um in der dunklen Gasse fluchend und spuckend seiner Arbeit nachzugehen. In schenkelhohen Stiefeln inspizierte er eine Sickergrube, die seitlich eines Hauses lag. Mit einer Forke stach er hinein, um festzustellen, wie hoch Kot und Jauche standen. Dann zog er zunächst einen Hundekadaver hervor, spießte ihn auf und trug den aufgedunsenen Tierleib vor sich her zum Karren, warf ihn mit Schwung hinauf.
Juliana, die sich im Schatten eines Hauseingangs verbarg, hielt sich angewidert die Hand vor Mund und Nase. Aber sie hielt tapfer aus, sie hatte sich geschworen, sogar durch die Hölle zu gehen, um ihr Ziel zu erreichen. Als der Gossenräumer endlich mit einem Eimer in die Sickergrube hinabstieg, huschte sie in die Gasse, am Karren vorbei und bog in das Halbmondgäßchen. Flink lief sie bis zum Konvent der Tante. Eine Mauer umschloß das kleine Anwesen. Juliana tastete sich daran bis zum Hoftor vor, über dem das trübe Licht einer Laterne flackerte. Sacht drückte Juliana gegen einen Torflügel, doch er war fest verriegelt. Verärgert wandte sie sich wieder der Mauer zu. Stolpernd lief sie weiter die Mauer entlang und entdeckte endlich eine kleine Gartenpforte. Ein leichter Druck genügte, und sie schwang auf. Durch feuchtes Gras, vorbei am Waschhaus, näherte Juliana sich dem Hauptgebäude. Still und dunkel lag es da, die Schwestern waren direkt nach der Komplet zu Bett gegangen. Kaum eine legte noch Wert auf die Spinn- und Leseabende, es gab keine Gemeinschaft mehr. In der Einsamkeit suchten die Schwestern ihren Frieden und Trost.
Juliana überquerte den kleinen Hof, begleitet vom unruhigen Grunzen eines Schweins. Ohne Mühe gelangte sie in das Haupthaus. Juliana streifte ihre Holztrippen ab, mit denen sie ihre feinen Ziegenlederschuhe gegen den Schlamm der Straße geschützt hatte. Auf leisen Sohlen erklomm sie die Stiegen zum ersten Stockwerk. Noch einmal atmete sie tief ein, dann schob sie den Riegel zur Schlafkammer Rebeccas beiseite. Sie drückte die Tür auf und trat ein. Finsternis. Langsam tastete sie sich bis zu dem einfachen Lager der Tante vor. Unter dem Bildnis der hölzernen Madonna glomm ein kleiner Funke, ein ewiges Licht, das langsam im eigenen Talg ertrank. Juliana streckte die Hand vor und fühlte die grobe Decke auf dem Holzbett. Langsam ließ sie die Hand darüber gleiten, dann schneller, endlich riß sie die Decke hoch. Das Bett Rebeccas war leer. Verwundert wollte sie die Decke wieder fallen lassen, als sie Geräusche und eine vertraute Stimme auf der Treppe vernahm
Noch immer flüsterte der Diakon seine Proteste. Juliana besann sich kurz, dann riß sie ihren Umhang herunter, öffnete ihr Mieder, stieg aus ihrem prachtvollen damastenen Rock und stand endlich nackt da. Rasch blickte sie sich um, dann stopfte sie hastig ihr Kleiderbündel unter das Bett und schlüpfte hinein. Das ewige Licht verlosch endgültig, Juliana lächelte selig in die vollkommene Dunkelheit hinein. Nun würde ihre Rache vollkommen sein.
Die Schaffnerin trat leise in die Zelle, vor sich trug sie ein kleines Öllämpchen. Sie eilte auf leisen Sohlen zu dem Tisch, auf dem Weinkrug und Breischüssel standen. Sie hob den Krug an und stellte fest, daß er leer war. Befriedigt nickte sie, dann hielt sie ihr Lämpchen kurz über das Bett. Die Schlafende hatte sich ganz zur Wand gedreht und die Decke über ihren Kopf gezogen.
Vor der Tür wartete der Diakon ungeduldig. »Nun?« fragte er flüsternd, als die Schaffnerin zu ihm hinaustrat.
»Es ist noch nicht ganz Mitternacht. Die Stunde, um die herum sie gewöhnlich ihre Visionen hat. Kommt mit mir und trinkt noch ein Glas Wein zur Stärkung.«
Der Diakon zögerte. »Ich möchte nichts verpassen«, sagte er.
»Ihr Schlaf ist noch zu leicht, sie könnte erwachen«, warnte die Schaffnerin.
»Nun gut«, antwortete der Diakon und ließ sich in die Küche hinabführen, wo die Schaffnerin schon längst einen ganz besonderen Wein vorbereitet hatte. Zwei Becher nahm der Diakon und fühlte, daß das Getränk ihn mit einem merkwürdigen Feuer erfüllte und jeden Zweifel in ihm vernichtete. Schließlich war seine Ungeduld so groß, daß er sich nicht länger zurückhalten ließ. Anna versprach, die Nacht im Gebet und in ihrer Kammer zu verbringen, und der Diakon schlich leise die Treppe
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