Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
schaffen zu haben. Aber ich fürchte ...«
Der Mann kniff die Augen zusammen und schürzte den Mund. »Ihr erhebt eine sehr schwere Anschuldigung. Wißt Ihr, was mit Eurer Schwester geschehen könnte, wenn man sie erneut bei einem Konventikel antrifft?«
Juliana seufzte wie unter großer Gewissensnot. »Guter Mann, nichts könnte mir mehr Leid bereiten.« Sie machte eine kurze Pause und senkte den Blick, im Schein der Laterne sah sie nun aus wie die schmerzensreiche Madonna, sie wußte es und fuhr fort: »Nichts könnte mich mehr schmerzen, außer dem Verlust des ewigen Heils, der meiner Schwester droht, wenn sie von unserer einzigen, wahren Kirche abfällt. Darum bitte ich Euch, helft mir sie zu finden.«
»Hmm. Eure Inbrunst scheint echt. Aber gebt mir Zeit, einige Kettenwächter zu sammeln. Alleine möchte ich mich nicht an die Verhaftung wagen. Es braucht Zeugen.«
»Ich kann Eure Zeugin sein«, bot sich Juliana eifrig an.
Der Nachtwächter schüttelte den Kopf. »Nein, geht Ihr nur nach Hause, und ich will vergessen, daß ich Euch hier sah. Denkt daran, jeder Mensch, der einem Ketzer hilft, ihn schützen oder ihm zur Flucht verhelfen will, ist selbst verdächtig.«
Juliana senkte wie betroffen das Haupt. »Aber«, sagte sie leise, »sie ist meine Schwester.« Ein Hund schlug an.
»Geht«, sagte der Nachtwächter, »geht, bevor ich es mir anders überlege.«
Columba schlief friedlich. Anna erkannte es im Schein ihrer Fackel. Suchend blickte sie sich um und entdeckte einige feste Seile. Sie steckte die Fackel in einen Krug, riß ein Seil hervor und warf sich über die Schlafende. Mit hartem Griff packte sie Columbas Arme, drehte sie auf den Rücken und band sie so fest, daß sich der rauhe Hanf in ihr Fleisch schnitt. Davon erwachte das Mädchen. Zögernd öffnete sie die Augen, ungläubig starrte sie in das Gesicht der Schaffnerin, die zurücktrat und höhnisch auf Columba hinabblickte. Das Mädchen wollte sich aufrichten. Allein die gebundenen Arme hinderten sie. Mit einem Schlag war sie hellwach.
»Was soll das? Was willst du von mir?« rief sie wütend.
»Beruhige dich, alles geschieht zu deinem Besten.«
Columba trat mit den Füßen die Säcke beiseite, mit denen sie sich zugedeckt hatte. Doch bevor sie aufspringen konnte, hatte die Schaffnerin das Messer gezogen und hielt es ihr vors Gesicht. Im Schein der Fackel blitzte die Klinge auf. Columba wich zurück. »Du bist gekommen, um mich zu töten?« stieß sie verwundert hervor.
»Du hast die Wahl. Wenn du endlich dem Willen deines Vaters gehorchst und mir in sein Haus folgst, sollst du leben.«
»Niemals!« schrie Columba und war mit einem Sprung auf den Beinen, sie warf sich der Schaffnerin entgegen, der im Moment der Überraschung das Messer entglitt. Mit scharfem Klirren fiel es auf den kalten Steinboden.
Annas Hände schnellten nach vorne, um Columba abzuwehren, die sich so heftig auf sie stürzte, daß beide Frauen zu Boden gingen. Doch Anna war es ein leichtes, das gefesselte Mädchen von sich abzuwerfen und Columba auf den Boden zu drücken. Doch diese zog beide Knie an, rammte sie der Gegnerin mit aller Kraft in den Leib. Anna schnellte hoch und rang nach Atem, während Columba den Augenblick nutzte, um aufzuspringen und zur Tür zu laufen. Allein, Anna war schneller. Sie stellte sich zwischen die Tür und das Mädchen, das Messer blitzte wieder in ihren Händen. Sie hob es über den Kopf, ließ es hinabfahren, und die Spitze des Dolches bohrte sich in Columbas rechten Oberarm.
Das Mädchen schrie auf unter dem brennenden Schmerz, der wie ein Blitz ihren Arm durchjagte, und sank zu Boden.
»Du hast es nicht anders gewollt«, zischte Anna böse und verwahrte das blutende Messer im ledernen Gürtel ihres Gewandes. »Und nun ...«
Die Tür in ihrem Rücken wurde aufgestoßen, das Türblatt traf sie so hart, daß sie taumelte und vornüber fiel – direkt auf die wehrlos daliegende Columba. Ein spitzer Schrei. Das Messer im Gürtel der Schaffnerin traf ein zweites Mal auf weiches Fleisch. Diesmal ohne deren Zutun, diesmal tödlich.
»Was habt ihr bettelgrauen Weiber hier zu schaffen?« donnerte eine männliche Stimme. Ein verzagtes Wimmern war die Antwort.
Etwa um diese Zeit entließ Juliana Mertgin und den Freiherrn aus ihrer Gefangenschaft in der Hauskapelle van Gelderns. Bleich und zitternd stand die alte Magd vor ihr, mit zornesroten Backen der Freiherr. Seine Halskrause hing lose über seiner entblößten Brust. In seiner Wut
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