Die Visionen von Tarot
formte sich zu einer Spirale, einer wirbelnden Säule, deren Zentrum so grell wie die Sonne leuchtete, so daß er nicht direkt hineinblicken konnte. Die einzelnen Schlaufen wurden zu Mustern, und jeder Wirbel ähnelte einer Blume – aber diese Blumen waren ja geflügelte Wesen! Satans Geisterarmee? Sonderbar, selbst als er sie als solche erkannte, blieben sie doch für ihn wunderschön.
Eine löste sich heraus und flog auf ihn zu. Es war ein weiblicher Geist, schön über alle Maßen, wie er es in der Hölle niemals für möglich gehalten hätte. Das Wesen schien absolut rein und keusch. „Paul“, rief es, als es neben ihm landete. Wie er bemerkte, stand er auf einem Berggipfel und sah sich dem rosigen Schimmer von Gestalten gegenüber, die wie ein Wirbelsturm über den Himmel fegten, und aus diesem Himmelsbildnis war sie entsprungen.
Er kannte sie: Natürlich war es Amaranth, die immerwährende Verführung. Natürlich würde sie auch in der Hölle auftauchen! Doch ihr Gesicht erstrahlte in reinem Licht, und sie war auf besondere Weise schön, eher wie ein Engel denn wie ein …
„Wo sind wir?“ fragte er unvermittelt. „Wer bist du?“
Sie lächelte anmutig. „Das ist der Emphyreanus, der zehnte Himmel … und ich bin Maria!“
„Zehnte was?“ fragte er ungläubig. „Und was für eine Maria?“
„Der zehnte Himmel des Paradieses“, antwortete sie mit sanftem Lächeln. „Maria, die Mutter Jesu.“
Irgend etwas war falsch gelaufen. „Ich … dachte … ich sei in der Hölle!“
Sie sah ihn geduldig und erstaunt zugleich an. „Du stehst vor dem Hof Gottes … und verwechselst ihn mit der Hölle?“
„Präzession“, murmelte er. Dann versuchte er, sich neu zu orientieren. „Ich wollte Satan aufsuchen, um bei ihm … wegen einer Bitte vorstellig zu werden. Ich habe … mit dem Himmel nichts zu tun. Ich muß durch die … falsche Tür hineingelangt sein.“
„Kann dir nicht der Herr des Himmels ebensogut helfen?“ fragte Maria. Sie sah auf unheimliche Weise vertraut aus, aber nicht wie die Gestalt, die sie eigentlich war. Vielleicht hatte sie irgend jemand nach einem Bildnis gestaltet.
Bruder Paul dachte nach. „Äh … ich wollte Gott nicht damit belästigen … nicht dieses Mal.“ Er befand sich in dieser Animation, um herauszufinden, ob es wirklich einen Gott von Tarot gab – warum zögerte er nun, da er die Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch bekommen konnte? Weil er sich unvorbereitet fühlte (wer war wohl jemals für diese Begegnung richtig vorbereitet?) oder weil er fürchtete, hinter dieser unirdischen Strahlung im Zentrum der Lichtrosette läge eine Antwort, wie jene, die er in dem strahlenden Gral gefunden hatte? Er war sich lediglich sicher, nicht mit Gott sprechen zu wollen.
„Vielleicht verrätst du mir die Art deiner Suche …“ schlug Maria mitleidig vor.
Daran klammerte er sich dankbar. „Ach … ja. Es ist … nämlich … dein Sohn Jesus … er wollte …“ Er konnte nicht weiter reden. Das war ja zu albern.
„Jesus ist im Augenblick nicht da“, meinte Maria. „Er befindet sich auf einer Mission bei den Lebenden, und wir haben seit einiger Zeit nichts mehr von ihm gehört. Ich bin besorgt, wie es eine Mutter nur sein kann.“
„Er ist in der Hölle“, sprudelte es aus Bruder Paul heraus. „Er … ich sollte eigentlich dorthin, aber für unsere Freundschaft ist er anstatt meiner gegangen, und nun will ich ihn herausholen!“
Sie betrachtete ihn mit engelsgleicher Würde. „Du willst den Platz mit ihm tauschen?“
„Nein. Ich will, daß keiner von uns beiden in der Hölle ist. Ich habe den Eindruck, diese Entwicklung ist falsch gelaufen, denn auch ich gehöre nicht in die Hölle. Nicht aus dem Grund jedenfalls, den er annahm. Daher
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