Die Visionen von Tarot
Leiter hielt stand. Er lehnte sich zurück, wobei er die Lampe vorsichtig über sich hielt, und ließ den Oberkörper herumschwingen, bis er kopfüber nach unten an den Knien hing. Sein Kopf fuhr durch das Loch, und die Lampe beschien den Raum dahinter. Die Wände sahen glitschig aus, und es gab keine zweite Leiter, auf der er den Weg hätte fortsetzen können. Das war eine Einbahnstraße – wahrscheinlich am unteren Ende mit Wasser gefüllt. Vielleicht würde die Flüssigkeit seinen Sturz mildern, aber das zu riskieren wagte er sich nicht. Noch nicht.
Man hatte ihm mehr oder minder zu verstehen gegeben, daß er nichts zu fürchten habe außer sich selbst. Nun kam ihm in den Sinn, daß man dies auch auf höchst beunruhigende Weise auslegen konnte. Wenn er sich entschloß, sich in den Abgrund fallen zu lassen, und das stellte sich als Irrtum heraus, würde er sich selber umgebracht haben. Er mußte die richtige Entscheidung treffen – ohne ausreichend informiert zu sein.
Nun, auf dieser Leiter brauchte er auch nicht zu bleiben! Er umklammerte mit der Linken die letzte Sprosse, hielt die Lampe mit der Rechten und zog sich hoch, bis er die Füße ausstrecken konnte. Dann begann er die hundert Stufen wieder hinaufzuklettern.
Ungefähr zwanzig Stufen weiter oben – zweiundzwanzig, um ganz genau zu sein – sah er in dem Lichtkegel einen Einschnitt. Es war eine Aussparung, die man von oben nicht sehen konnte, weil die obere Wand leicht darüber hing. War dies ein natürlicher oder künstlicher Spalt?
Er war in puncto Zufällen vorsichtig geworden. Bruder Paul beugte sich so weit wie möglich hinüber, wobei er mit der Linken die Lampe ausstreckte. Dieser Spalt war breit genug, daß sich ein Mensch hindurchzwängen konnte – und drinnen verliefen Stufen! Hier war der andere Weg!
Vorsichtig balancierte er darauf zu und schwang sich in den Spalt. Die Stufen waren schlüpfrig, aber fest. Sie führten tiefer in die Mauer hinein. Aus dem Spalt wurde ein neuer Tunnel, zuweilen so schmal, daß er seitlich weitergehen mußte, aber er führte bestimmt irgendwohin. Der Gang wand sich spiralenförmig. Als er mit dem Zählen bei Dreißig angelangt war, endeten die Stufen auf einer kleinen Plattform, und der Weg wurde durch ein bronzenes Gitter versperrt.
War das ein Dienstboteneingang für die Thesmotheten, auf den er hier zufällig gestoßen war? Wenn dem so war, dann bedeutete auch dieser Weg für ihn eine Einbahnstraße, denn das Gitter war versperrt und unbewacht. Es schien jedoch nicht nach draußen zu führen. Auf der zweiundzwanzigsten Stufe der Leiter von unten, was genau der Zahl der Großen Arkanen des Tarotspiels entsprach, erschien der Weg nur, wenn der Bewerber von seiner vergeblichen Suche vom Abgrund zurückkehrte. Sicher kein Zufall! Aber wie war nun die Bedeutung der dreißig alternativen Stufen hier? Diese Gänge schienen durchgehend in Einheiten von dreißig oder hundert eingeteilt zu sein, und das ähnelte keinem ihm bekannten Tarotspiel. Es gab hier also eine numerische Konstante, die er noch nicht ergründet hatte.
Bruder Paul spähte durch das Gitter. Vor ihm erstreckte sich eine lange Galerie, zu beiden Seiten von Sphinxstatuen gesäumt. Auf jeder Seite waren es genau fünfzehn Stück. Dreißig insgesamt. Zwischen den Skulpturen waren die Wände mit rätselhaften Fresken bemalt. Aus diesem Blickwinkel konnte er sie nicht genau erkennen, aber sie strahlten eine unheilvolle Vertrautheit aus. Fünfzehn Lampen, die in Dreiarmen ruhten, standen in einer Reihe in der Mitte der Halle, und eine jede Lampe war geformt wie eine Sphinx.
Langsam schritt ein Magus die Halle hinab auf ihn zu. Nein – es war der weibliche Thesmothet, Amaranth, wie eine Priesterin
Weitere Kostenlose Bücher