Die Visionen von Tarot
hatte keine. Sie überquerten eine größere Brücke, die sich in einem so verfallenen Zustand befand, daß hinter ihnen einige Planken hinabstürzten. Paul mußte Carolyn bei der Hand halten, damit sie die Balance behielt. „Dafür sind Daddies auch da“, sagte sie. Gewiß würden sie nun nicht mehr zurückgehen.
Doch nun teilte sich der Weg. Er nahm die eine Richtung, sie die andere. Aber als sie zu weit auseinander gerieten, wurde er nervös. Wenn er sie nun im Wald verlöre? Der Gedanke, sie bliebe allein, ängstlich, weinend hier zurück, erfüllte ihn mit tiefem Schuldgefühl, weil sie ihn gestern abend aus den Augen verloren hatte.
Dann kam sie zu ihm hinüber. „Es könnte hier Bären geben“, vertraute sie ihm an. Ja, wirklich – und nicht nur echte.
Der Pfad führte nun einen steilen, fichtenbestandenen Hang hinauf aus dem Flußtal hinaus und bog dann nach links – und das war nicht ihre Richtung. Doch sie setzten den Weg fort, weil sie sich einmal darauf eingelassen hatten. Er erreichte eine höher gelegene Ebene, zog sich durch ein Feld und teilte sich noch einmal. „Sieh mal!“ rief Paul.
Es war ein riesiges Indianerzelt, an die drei Meter groß und vollständig. Sicher ein ehrgeiziges studentisches Projekt; man erkannte einige Werkzeuge. Eine hübsche, serendipische Entdeckung.
Da mußte er natürlich seiner klugen Tochter die Bedeutung des Wortes ‚serendipisch’ erklären. Während sie also dem Pfad weiter in nördlicher Richtung folgten, erzählte er ihr von den drei Prinzen von Serendip, die immer das fanden, was sie nicht gesucht hatten. Wieviel deutlicher Worte doch wurden, wenn man eine kleine Geschichte dazu erzählte. Das nächste Mal, wenn er diesen Ausdruck benutzte, würde sie sicher sagen: „Oh, Daddy! Das große Zelt!“
Schließlich zog sich der Pfad zwischen hohen, dichten Büschen entlang – für ihn schulterhoch, bei Carolyn über den Kopf hinausragend, so daß ihr Fortkommen nur von der Erwachsenenperspektive abhing – und mündete in den häufiger benutzten Weg ein, dem sie zuvor gefolgt waren. Nicht verirrt!
„Das hat aber Spaß gemacht, Daddy!“ rief sie.
Ja, es war ein seltener Spaß gewesen. Er legte ihr den Arm um die Schultern, und sie gingen weiter. Ihr Collegeerlebnis war auf passende Weise zu Ende gegangen.
Doch in dieser Nacht suchten ihn böse Träume heim. Da war ein Brief für Carolyn, einer, auf den sie sich gefreut hatte, auf dem Postweg verloren gegangen. Dann ein Telefonanruf für ihn, der niemals durchgestellt wurde. Das Normenkontrollkomitee war wieder eingesetzt, konnte Paul nicht belangen und richtete seine Wut auf Will, um ihn hinauszuwerfen. Alles Unsinn, natürlich, aber sehr beunruhigend.
Sie standen noch vor der Dämmerung auf. Paul sorgte sich über mögliche Hindernisse auf ihrem Heimweg: David White könnte verschlafen, das Auto eine Panne oder das Flugzeug Verspätung haben, und sie würden den Anschlußflug verpassen. Oder Paul und Carolyn würden eine Erkältung bekommen, die das Fliegen für sie gefährlich machte. Oder sie hatten die Rückfahrtickets verloren, oder schlechtes Wetter …
David erschien zur verabredeten Zeit, um sie zum Flughafen zu fahren. Eine Sorge weniger! „Tschüs, Enten!“ sagte Carolyn. „Tschüs, Hunde, Tschüs, College!“ Ihre Miene begann sich zu bewölken. „Daddy, können wir nicht noch bleiben …?“
Paul gab keine Antwort. Er war froh, daß es ihr gefallen hatte, doch nun mußten sie wieder nach Hause. Er liebte seine Tochter, doch die Mutter liebte er auch, und die Trennung fiel ihm allmählich schwer.
Das Auto hatte auch keine Panne. Sie hatten auch keine Erkältung erwischt. Auf der Anzeigetafel erschien
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