Die Visionen von Tarot
entdeckte eine Abkürzung. „Komm, Daddy!“ rief sie. Offensichtlich hatte sie das Bedürfnis geerbt, alle Wege auszuprobieren, sowohl echte als auch geistige. Gesegnetes Kind! „Nur ein kleines Stück …“ sagte er.
Der Pfad schlängelte sich den Hang entlang, verlief sich und bildete sich neu. „Genau wie der Weg, auf dem du zur Schule gegangen bist“, meinte sie. Sie wurde es nie müde, die Anekdoten seines früheren Lebens zu hören. Paul hatte zweieinhalb Meilen zur Schule gehen müssen, als er in Carolyns Alter war. Er hatte ihr das nicht erzählt, um ihr das relativ gute und leichte Leben vorzuwerfen, das sie führte, sondern weil sie einfach gern sein Kinderleben mit dem ihren verglich. Nun hatte sie einen Weg gefunden, der wie sein Schulweg gewesen war, und das verlieh ihrem Abenteuer zusätzlichen Glanz.
Identifizierten sich andere Kinder auch derart mit ihren Eltern? Sicher versuchten sie es, doch in den meisten Fällen wurden richtige Vergleiche unterdrückt, vielleicht durch elterliche Gleichgültigkeit, bis nur noch freudianische Sublimationen übrigblieben. Wenn sich ein Mädchen nicht auf ihren Vater entweder als weltliche Person oder als Phantasie-Spielkamerad beziehen konnte, dann tat sie es vielleicht auf der sexuellen Ebene. Und das konnte für ihr späteres Leben höllische Konsequenzen haben. Wieviel besser war es doch, sie ganz Tochter sein zu lassen.
Der Pfad verlief über eine kleine, brüchige Holzbrücke, die einen Kanal überspannte, und schlängelte sich weiter. Carolyn schoß höchst aufgeregt voraus. Wie ähnlich war er – als er acht gewesen war – über Waldwege gestreift, und eigentlich genoß er es auch heute noch. Aber es wurde schon dunkler, und sie mußten am nächsten Morgen früh aufstehen, um das Flugzeug nach Hause zu erwischen. Sie hatten keine Zeit, sich zu verirren. „Ich glaube, wir kehren besser um“, meinte er zögernd.
„Nur noch ein bißchen“, bettelte sie, und er konnte es ihr nicht abschlagen. Das Zwielicht verlieh dem Ganzen noch etwas Besonderes, weil der Sehpurpur des Auges herausgefordert wurde. Alles war so aufregend, so wunderbar, wenn auch unverändert. Wie sehr dies doch der Suche nach Erkenntnis ähnelte – alles Neue brachte ein neues Rätsel mit sich, das man lösen mußte, bis man weit vom Ausgangspunkt entfernt war. Oder, nüchterner gesehen, wie auf dem Weg zur Hölle, der mit guten Vorsätzen gepflastert ist. Diesen Weg war er mehr als einmal gegangen, doch die Versuchung war geblieben.
Sie gingen noch ein gutes Stück weiter und gaben der Versuchung nach. Der Pfad führte sie kreuz und quer über verfallene Steinbrücken, um einen niedergestürzten Baum herum, zu einem Fluß. „Oh, Kiesel“, rief Carolyn und kauerte sich in gefährlicher Nähe zum Wasser nieder. Sie hatte eine Steinsammlung angefangen und war beständig auf der Suche nach neuen Farben und Formen. „Oh, wie schön!“
Paul gefiel grundsätzlich ihr Interesse an Gestein. Die Schönheit lag im Auge des Betrachters, und sie besaß ein gutes Auge. Aber nun war dafür keine Zeit! „Entweder wir gehen zurück – oder weiter!“ sagte er und spähte in den dunkler werdenden Wald hinein. Wenn er auch vier Jahre in diesem College verbracht hatte, so war er doch an diese Stelle niemals vorgedrungen. Das rief eine weitere Parallele in ihm wach: Sicher hatte es ähnliche zugängliche Wissensgebiete im College gegeben, die er ebenso übersehen hatte.
Sie beschlossen weiterzugehen, in der Hoffnung, wieder aus dem Wald herauszugelangen, ehe die Dunkelheit sie umfing, denn der Weg führte in die richtige Richtung. Paul mußte Carolyns Steine in die Tasche stecken, denn ihr Kleid
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