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Die Voliere (German Edition)

Die Voliere (German Edition)

Titel: Die Voliere (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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In Frankfurt gibt es eine schöne Eishalle«, sagte Nora. »Als Kind war ich öfter dort.«
    »Finden Sie das nicht albern?«, fragte Rosen.
    »Nein, wieso? Ich erinnere mich gut an das Gefühl von Schwerelosigkeit, wenn man über das Eis fliegt.«
    »Ich bin an der Nordsee aufgewachsen. Wenn der Winter besonders streng war, sind wir Kinder auf den Kanälen und Sieltiefen kilometerweit gefahren«, schwärmte Rosen.
    »Die Eishalle hat schon geöffnet. Wenn Sie möchten, gehen wir gemeinsam hin. Wir alle«, schlug Nora vor.
    »O nee«, wehrte Tibursky ab, »des is mir zu kalt.«
    »Träumen Sie immer noch vom Amazonas?«, fragte Nora.
    »Klar. Isch würd unheimlisch gern ane eschte Python in freier Wildbahn sehe, aber des is genauso ausgeschlosse wie Lefebers Zeischenglasse.«
    »Würde ich so nicht sagen …«
    Urplötzlich sprang Tibursky auf. »Ei, isch bin doch en Depp. Hätt isch des beinah vergesse!« Er rannte aus dem Zimmer und kehrte mit einem Päckchen zurück, das er Nora feierlich überreichte. »Alles Gute noch ma für Sie.«
    Vorsichtig wickelte sie das Geschenk aus. Zum Vorschein kamen eine Kette mit einem Anhänger in Blattform und eine grüne Baumpython.
    Nora spürte, wie ein heißes Gefühl der Scham in ihr aufwallte. Das waren die beiden Stücke, die sie Tibursky in der JVA abgekauft und liegen gelassen hatte. Mit hochrotem Gesicht entschuldigte sie sich, dann legte sie die Kette unverzüglich um.
    Plötzlich stand auch Lefeber mit einem Geschenk vor ihr. Es entpuppte sich als Bleistiftzeichnung, eine Miniatur mit ihrem Porträt. Mit wenigen Strichen hatte Lefeber das Wesentliche zu Papier gebracht. Nora schüttelte ungläubig den Kopf.
    »Ich kann mich gar nicht erinnern, Modell gesessen zu haben«, sagte sie scherzhaft.
    »Das mache ich aus dem Gedächtnis«, entgegnete Lefeber stolz.
    »Ich glaube, da kommt Bruno«, sagte Rosen, der den Blick aus dem Fenster gerichtet hatte.
    »So spät noch?«, meinte Nora, die sich über Bruno Albrechts unentschuldigtes Fehlen ärgerte, und spähte ebenfalls durch die Scheibe. Draußen war alles dunkel.
    Rosen kniff die Augen zusammen. »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.«
    Kopfschüttelnd räumte er das Geschirr ab. Kaum war er aus der Tür, drang von draußen aufgeregtes Vogelkreischen herein. Die Geräusche, die selbst durch das geschlossene Fenster und den an den Fensterläden rüttelnden Sturm zu hören waren, steigerten sich zu einem wilden Crescendo, um dann ebenso plötzlich zu verstummen. Es war, als ob selbst der Sturm in diesem Augenblick eine Pause einlegte, um Kräfte zu sammeln.
    Nora, Lefeber und Tibursky sahen sich irritiert an. Mit einem unheilvollen Klirren krachte das Tablett mit dem Geschirr auf die Küchenarbeitsplatte, Schritte stampften über den Gang wie Hammerschläge, die Hauseingangstür wurde aufgerissen und knallte gegen die Flurwand, sodass alle Kerzen im Raum flackerten.
    Dann ertönte ein gellender Schrei.
    *
    Eins. Fünf.
    Zuerst denkt Rosen, der Wind hat die Tür der Voliere aufgestoßen. Wie das Tor in eine andere Welt führt das Loch im Drahtgeflecht in das Innere des begehbaren Käfigs. Es ist stockfinster, weder Mond noch Sterne sind zu sehen, deshalb kann Rosen die Vögel nicht gleich entdecken. Wenn der Sturm die Tür aufgedrückt hat, sind sie vielleicht entkommen. So ein Unwetter werden sie in Freiheit nicht überleben, denkt er und unterdrückt mühsam die aufsteigende Panik.
    Aber der Sturm reißt eine Tür nicht aus den Angeln und auch nicht die ganze Seitenwand der Voliere, die aussieht, als hätte sich ein wildes Tier dagegengeworfen. So etwas tut nur eine ganz bestimmte Sorte von wilden Tieren, denkt Rosen.
    Vorsichtig setzt er einen Schritt vor den anderen, tappt im Dunkeln herum, will die Vögel nicht noch zusätzlich erschrecken. Er muss Willi rufen, seine Stimme beruhigt ihn vielleicht. Doch die Angst schnürt ihm die Kehle zu, mehr als ein ersticktes Krächzen bringt er nicht hervor.
    Dann knirscht etwas unter seiner Schuhsohle.
    Rosen geht in die Knie, starrt angestrengt auf den Boden, um etwas zu erkennen, aber es ist zu dunkel. Er streckt die Hand aus und tastet sich vor. Erde, Steinchen, Tannennadeln. Dann plötzlich – Federn. Nasse Federn, an denen der Wind zerrt. Rosens Magen fühlt sich an wie ein Stein. Er greift zu und hält sich das, was er auf dem Boden gefunden hat, dicht vors Gesicht.
    Es ist ein Flügel. Ein Flügel, ausgerissen am Schultergelenk, das Wenige, was er im Finsteren erkennen

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