Die Voliere (German Edition)
zurückzukehren. Doch der ist zerstört. Trotzdem beneidet Rosen diese seltsamen Menschen nicht. Die Hochhäuser, die wie futuristische Kunstwerke in der Sonne blitzen, machen ihm Angst. Viel lieber beobachtet er den Doppelvierer ohne Steuermann, der wie ein Pfeil durch das grüne Mainwasser gleitet. Die Ruhe und Präzision, mit der die Männer ihre Ruder ins Wasser eintauchen und das Boot vorantreiben, faszinieren ihn.
Er hört Neumann telefonieren. Es geht um die Reporter und wie man sie am besten loswird. Neumann möchte unbedingt vermeiden, dass der ganze Tross mit ihnen wie ein Hornissenschwarm in das Dorf einfällt. Durch das Heckfenster sieht Rosen hinter den zivilen Polizeifahrzeugen mehrere Ü-Wagen vom Fernsehen. Vorhin waren sie noch nicht da. Vor ihnen liegt die Auffahrt zur A 5. Plötzlich werden Blaulichter auf dem Dach der Zivilfahrzeuge angebracht und eingeschaltet, Kellen zum Fenster hinausgehalten, die Polizeiwagen halten abrupt. Der erste Ü-Wagen muss so stark bremsen, dass die Reifen quietschen und die Schüssel auf dem Dach bedrohlich schaukelt. Ihr Bus prescht an Polizei und Presse vorbei. Rosen spürt, wie die Beschleunigung ihn in den Sitz drückt. Von der Beschleunigungsspur geht es direkt auf die Überholspur. Sie haben ihre Verfolger erfolgreich abgehängt.
Tibursky kotzt in die Papiertüte. Neumann und der Fahrer kurbeln die Fenster herunter, nun zieht es. Rosen streift die Kapuze über und schließt die Augen.
Am Frankfurter Kreuz geht es Richtung Würzburg, kurz vor Seligenstadt fahren sie ab auf die Bundesstraße nach Hanau, dann weiter nach Langenselbold. Es ist wie der Wechsel von einer Vegetationszone zur anderen, von der neuen Welt in die alte. Die Hochhäuser des Frankfurter Bankenviertels sind kaum mehr ein Schatten im Dunst hinter ihnen. Die Häuser zu beiden Seiten der Straße werden spärlicher, dafür drängt die Natur immer mehr in den Vordergrund.
Hinter Gelnhausen tauchen sie in den Wald ein. Die Straße wird schmaler, ist vollständig bedeckt von nassem Laub, öfter säumen mächtige Baumstämme den Weg, von Forstarbeitern zur Abholung gestapelt. Noch immer ist die Holzwirtschaft ein wichtiger Erwerbszweig in dieser Gegend, in der uralte Eichen und Buchen stehen, doziert Neumann über das Brummen des Motors hinweg.
Rosen weiß nichts über den Spessart, über seine Flora und Fauna, seine Kulturlandschaften und seine Menschen, aber eines spürt er beim Anblick der hoch aufragenden Buchen und Eichen instinktiv: Das ist eine alte Landschaft, viel älter als das Stahl- und Glas-Revier der verwirrenden Großstadt, die sie soeben verlassen haben.
Der Wagen fährt rechts ran, damit Tibursky seine Tüte entsorgen kann. Rosen nutzt die Gelegenheit und springt aus dem Wagen.
Der Boden ist elastisch, unglaublich, wie weich er sich anfühlt! Wie ein Fünfjähriger hüpft Rosen auf und ab, um das Federn der Erde zu spüren. Er atmet tief durch, bis in die äußersten Spitzen seiner Lungenflügel saugt er die holzige, moosfeuchte Luft ein. Zum ersten Mal seit Langem hat er das Gefühl, dass Luft nach etwas anderem als abgestandenem Essen oder Autoabgasen schmecken könnte.
Tibursky zündet sich eine Zigarette an und vertreibt den Wohlgeruch.
Ein Windstoß fährt in einen Blätterhaufen, wirbelt die Blätter hoch und um Rosen herum. Wie in einer Schneekugel, die mit roten und orangefarbenen statt weißen Schneeflocken gefüllt ist, fühlt er sich. Er dreht sich im Kreis, greift nach den Blättern, fängt eines, zwei, drei aus der Luft und steckt sie in die Jackentasche.
Tibursky wirft ihm einen geringschätzigen Blick zu, nimmt einen letzten tiefen Atemzug und steigt wieder ins Auto.
Eine halbe Stunde später taucht das Ortsschild vor ihnen auf:
Scheelbach
Perle des Spessarts
Main-Kinzig-Kreis
741 m ü. N.N.
*
Scheelbach war ein sogenanntes Straßendorf. Dreizehn Häuser säumten rechts und links die Durchfahrtsstraße, die Lohrhaupten mit Rieneck verband und den Ruppertshüttener Forst, den Herrnwald und den Rienecker Forst durchquerte. Am Ortseingang, von der Lohrhauptener Seite her kommend, war an der Außenmauer der Gastwirtschaft Zum Goldenen Kalb eine Radarfalle installiert. In den letzten drei Jahren war sie mehr als ein Dutzend Mal das Opfer von Vandalen geworden, vermutlich aufgebrachte Autofahrer, die mit überhöhter Geschwindigkeit geblitzt worden waren.
Sechs der dreizehn Scheelbacher Wohnhäuser waren Gehöfte, die im weitesten Sinne mit Land- oder
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