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Die Voliere (German Edition)

Die Voliere (German Edition)

Titel: Die Voliere (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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einer Wegbiegung verschwand.
    Auf einer Wiese kurz vor dem Waldrand stand ein Traktor mit Anhänger. Ein Mann mit Schutzbrille stand in einem Berg Holzmehl und zersägte unter ohrenbetäubendem Lärm einen meterdicken Eichenstamm. Als die Fahrzeuge an ihm vorüberkamen, legte er die Motorsäge beiseite, zog ein Handy aus der Tasche und fotografierte die Prozession.
    Rosen stutzte. Wenn er sich nicht getäuscht hatte, blitzte auf dem weißen Telefon das silberfarbene Emblem eines angebissenen Apfels. Er hörte seinen Magen knurren.
    Die Straße, die sich inzwischen in eine Schotterpiste verwandelt hatte, wurde nun zu einem Waldweg mit Schlaglöchern, in denen das Wasser stand. Die Fahrzeuge kamen nur noch im Schritttempo voran und schaukelten wie Schiffe in der Dünung.
    Tibursky stöhnte und bat um eine neue Papiertüte, doch Neumann hatte keine mehr. Sie müssten gleich da sein, vertröstete der Bewährungshelfer ihn, er solle versuchen, durchzuhalten.
    Hinter der nächsten Wegbiegung passierten sie einen Aussichtsturm. Das Holz war dunkel wie Teer, die Streben waren mit Moosflechten bewachsen. Der Aufgang war mit Brettern vernagelt und ein gelbes Schild warnte potenzielle Besucher: Betreten verboten. Einsturzgefahr!
    Wenige Augenblicke später sagte der Fahrer: »Da vorne ist es.«
    Der Wald mündete in eine Lichtung, gab den Blick frei auf ein vernachlässigtes Haus mit grauem Mauerwerk. An einigen Stellen war der Putz abgeblättert und darunter kamen rote Ziegelsteine zum Vorschein. Knapp unter dem Giebel befanden sich zwei kleine Fenster, schwarzen Löchern gleich, die den Eindruck erweckten, als ließe sich jeder, der sich dem Anwesen näherte, unbemerkt beobachten.
    Als die Kolonne endlich in den Hof einfuhr, stürzte Tibursky, kreideweiß im Gesicht, ins Freie. Nachdem die Motoren verstummt waren, hörte man nur noch zwei Geräusche: das Rauschen der Tannen im Herbstwind und das Würgen von Tibursky.
    *
    Tobin Kiefer betrachtete entgeistert das Digitalfoto, das ihm vor ein paar Minuten per E-Mail zugeschickt worden war. Eine Kolonne, bestehend aus einem Personentransporter und zwei Limousinen, fuhr in den Scheelbacher Forst ein, in Richtung Schreckenmühle. Was hatte das zu bedeuten? Nahm dieser Albrecht sein Therapiezentrum, dessen Pläne er dem Gemeinderat vor einigen Monaten vorgelegt hatte, etwa schon in Betrieb? Das Haus war selbst für Erwachsene noch nicht bewohnbar, ganz zu schweigen von Kindern, die unter psychischen Störungen litten. Und was sollte der massive Begleitschutz?
    Kiefer kämpfte gegen den inneren Drang, sein Büro umgehend zu verlassen, um sich vor Ort ein Bild von der Situation zu machen. Und er ärgerte sich über sich selbst. Denn bereits vor Wochen hatte er sich vorgenommen, Albrecht endlich aufzusuchen und zur Vernunft zu bringen. Doch es war bei diesem Vorsatz geblieben. Sei es, weil er sich davor scheute, um sein Elternhaus zu schachern wie um einen Sack Gerstenmalz, oder weil er einfach zu viel zu tun hatte. Nun war es zu spät: Albrecht machte offensichtlich Nägel mit Köpfen.
    In diesem Moment klingelte das Telefon – es war Anna.
    »Tobin, da haben gerade einige Männer nach dem Weg zur Mühle gefragt. Ich dachte, ich rufe dich lieber an.«
    »Dieser Albrecht nimmt seinen Streichelzoo wohl schon etwas früher in Betrieb.«
    »Da waren keine Kinder im Auto.«
    »Nicht? Dann rücken vielleicht die Handwerker an.«
    »Tobin, einen der Männer im Wagen habe ich wiedererkannt.«
    Das atmosphärische Rauschen in der Leitung hallte in seinen Ohren.
    »Aus dem Fernsehen.«
    Anna sprach in Rätseln.
    »Kannst du mal ein bisschen deutlicher werden? Wen hast du wiedererkannt?«
    »Du erinnerst dich an die drei Männer, die man aus dem Gefängnis freilassen musste? Die angeblich gefährlich sind? Wo es in Frankfurt den Aufstand gab, weil die Leute sie weghaben wollten? Einer von denen saß in dem Auto. Und ich glaube, die anderen beiden ebenfalls.«
    Wortlos legte Kiefer auf.
    Er hatte das Gefühl, sich mitten in einem Albtraum zu befinden, das Blut rauschte in seinen Ohren, vor seinen Augen tanzten rote Flecken und er musste sich an der Tischkante festhalten.
    Nachdem sich sein Blutdruck halbwegs normalisiert hatte, ging er zum Fenster und nahm den Aussichtsturm, dessen Dach schwarz aus den Baumwipfeln herauslugte, ins Visier. Er weigerte sich zu glauben, was Anna ihm berichtet hatte. Sie verfügte über eine lebhafte Fantasie, sicher hatte sie den Mann im Wagen verwechselt und es

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