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Die Voliere (German Edition)

Die Voliere (German Edition)

Titel: Die Voliere (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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Fest hatten die Mitglieder den nüchternen Zweckbau, der normalerweise als Gemeindehalle diente, in einen Hort der Lebensfreude verwandelt. Die Wände waren mit Luftballons und Girlanden geschmückt. Die Kinder hatten tellergroße gebastelte Papiersonnenblumen am Rednerpult und an den Fenstern befestigt. Auf den Tischen standen Windlichter und kleine Blumensträuße mit Herbstgebinden, weiße Hussen verliehen den bescheidenen Brauereistühlen einen festlichen Glanz, und hoch droben unter der Decke schwebte die Fahne mit dem Scheelbacher Wappen: ein weißes Mühlrad auf rotem Hintergrund, darüber rotes Eichenlaub auf weißem Hintergrund.
    Von der an einen Seitenausgang angrenzenden mobilen Küche roch es scharf nach Grillhähnchen, die Brauerei Kiefer belegte eine halbe Seitenwand mit dem Getränkeausschank und der Moonlight-Bar, und am gegenüberliegenden Ende des Saals hatte man einen Tanzboden aufgebaut, neben dem eine Band mit dem Namen Rock & Fun und ihre in die Jahre gekommene Sängerin sich an Drafi Deutschers Marmor, Stein und Eisen bricht versuchten.
    Später wusste niemand mehr zu sagen, wie der sehnige Kerl mit dem spitzen Kinn, auf dessen Foto die Scheelbacher erst vor ein paar Tagen in derselben Gemeindehalle beklommen gestarrt hatten, an den Sicherheitsleuten vorbeigekommen war. Vielleicht lag es daran, dass das zwanzig Jahre alte Foto ihn noch mit Siebzigerjahre-Koteletten und Schnauzer gezeigt hatte. Vielleicht lag es an der Dunkelheit vor dem Eingang. Oder daran, dass die schwarz gewandeten Ordner, in Springerstiefeln rechts und links neben der Eingangstür, einfach nicht mit einer derartigen Dreistigkeit rechneten.
    Tibursky machte jedenfalls sein offenstes und freundlichstes Gesicht, als er den Männern zunickte – der Versuch, sein Gesicht zu verbergen, hätte nur Aufmerksamkeit erregt – und mit Herzklopfen die Halle betrat. Der in schummriges Licht gehüllte Saal war gut gefüllt, die meisten Tische waren mittlerweile besetzt. Die Bar wurde von der Dorfjugend belagert und mehrere Paare im Rentenalter schoben zur Musik über den Tanzboden.
    Tibursky hielt auf die Bar zu. Dort bestellte er ein Getränk, das Coconut Kiss hieß und sich als sämig weiße Flüssigkeit in einem Stielglas mit Schirmchen entpuppte. Es schmeckte weniger nach Alkohol als nach Fruchtsaft und stieg, wie Tibursky bald merkte, schnell zu Kopf.
    Er leckte sich den Kokosnussgeschmack von den Lippen und ließ den Blick durch die Halle schweifen.
    An einem Tisch unweit der Band saß die Frau, die er im Supermarkt getroffen hatte. Die Nachbarin. Mutterseelenalleine hockte sie an dem langen Tisch, zwischen den Fingern mit den rot lackierten Nägeln wartete eine Zigarette darauf, angezündet zu werden, während die Finger der anderen Hand den Takt der Musik auf ihr Knie trommelten. Tibursky warf sich in die Brust und durchquerte den Saal. Bevor sie ihm Einhalt gebieten konnte, hatte er sich schon neben sie gesetzt.
    Auf dem Tisch stand ein Glas Rotwein. Er prostete ihr zu. »Wolfgang. Wolfi für meine Freunde.«
    Sie sah sich um, als wollte sie sich vergewissern, ob der Mann, der sie angesprochen hatte, nicht jemand anderen meinte. Seine Geste erwiderte sie nicht.
    »Hast du auch en Name?«
    Ihre Zigarette zitterte. Die Nachbarin sah aus, als wäre sie zur Salzsäule erstarrt.
    »Anna«, entgegnete sie, als sie sich wieder gefangen hatte. »Anna Kiefer.«
    Tibursky trank einen Schluck und ließ seinen Blick auf Anna Kiefer ruhen. Ihr schmales Gesicht und ihre traurigen dunklen Augen weckten seinen Beschützerinstinkt. In der Grube unterhalb des Adamsapfels, dort wo die Haut besonders weich war, blitzte ein mit Granatsteinen besetztes goldenes Kreuz.
    »Du weißt, wer ich bin, oder?«
    »Sie sind – ich meine, du bist einer der Männer aus der Schreckenmühle. «
    Sie sahen sich lange in die Augen.
    »Hast du Angst vor mir?«
    »Ich – nein. Sollte ich?«
    Sie legte die Zigarette neben dem Weinglas ab.
    »Nein«, lachte Tibursky. »Isch bin völlisch hammlos.«
    »Das sehen die meisten Leute im Dorf anders«, flüsterte Anna Kiefer und räusperte sich.
    Tibursky begriff. Eine Weile sah er Anna Kiefer neugierig an, doch sie mied seinen Blick. Er mochte ihre zarten Züge, ihre schmale Nase und ihre traurigen Augen, die gelegentlich aufblitzten. Und er bildete sich ein, dass sie gut roch, selbst in dem Dunst aus Alkohol, Schweiß und verbrauchter Luft. Tibursky meinte, Lachfältchen rund um ihre Augen zu erkennen, wo vorher keine

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