Die Voliere (German Edition)
AC/DC, seiner Lieblingsband.
»Timm, fass mal mit an!«
Der Mann von der Neunuhrschicht zeigte auf ein leeres Bierfass, das bereits auf dem Boden stand. Mette schenkte Rotwein ein und scherzte mit dem Kerl, der ihn bestellt hatte. Sie liebte ihre Arbeit, ging völlig in ihr auf.
Das leere Fass war ein Wink des Schicksals.
Timm packte mit an und die beiden schleppten das Holzfass nach draußen, wo sie es auf einen Pritschenwagen wuchteten. Der Mann bedankte sich und ging wieder hinein. Timms Herz klopfte. Ein wohliges Prickeln breitete sich in seinem Nacken aus. Er schlenderte lässig zum Haupteingang, wo sich eine ganze Traube Heranwachsender versammelt hatte und alle paar Sekunden Gelächter ertönte.
Mit einem flauen Gefühl im Magen stellte er sich neben Finn, den Sohn einer Nachbarin, der etwa gleich alt war. In den Ärmel seines kurzarmigen T-Shirts hatte er lässig eine Schachtel Zigaretten gewickelt, das Logo mit dem Trampeltier lugte noch hervor.
Timm stand eine ganze Weile stumm da, lachte mit, obwohl er die Witze nicht verstand, und versuchte, nicht aufzufallen. Erst als Finn meinte, er ginge wieder hinein, seine Freundin werde sonst unruhig, nahm Timm seinen ganzen Mut zusammen und bat ihn um eine Zigarette.
Finn sah ihn verblüfft an. »Fang besser gar nicht erst damit an.«
»Bist du etwa meine Mutter?«, beschwerte sich Timm. Die Umstehenden lachten. Finn verdrehte die Augen, hielt ihm aber schließlich doch die Schachtel hin. Timm bediente sich und spazierte mit seiner Eroberung an der öffentlichen Toilette vorbei, über den Parkplatz und in Richtung Spielplatz.
Er ging durch das kleine Holztor und setzte sich auf eine Bank. Lärm aus dem Festsaal drang zu ihm herüber, immer wieder dämpfte der Wind aus der gegenläufigen Richtung die Geräusche, doch sobald er nachließ, roch es nach der Holzglut, über der ein Spanferkel gegrillt wurde, und manchmal auch nach dem Urinal.
Timm steckte die Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an. Das Knistern des Tabaks hatte etwas Geheimnisvolles, im Schein der Glut beobachtete er, wie die Papierhülle von der Hitze versengt wurde. Er sog den Rauch tief ein, behielt ihn in der Lunge. Für einen Augenblick versank die Welt ringsum: Es war genauso, als würde man sich von einem Fünfmeterbrett in die Tiefe des Schwimmbeckens fallen lassen.
Hustend stieß er den Rauch wieder aus. Der Qualm verschlimmerte das Kratzen im Hals, die Lunge verkrampfte sich, immer mehr, bis er keine Luft mehr bekam. In hohem Boden warf er die Zigarette weg, die Glut stieb hoch, als sie unter der Schaukel landete.
Timm holte tief Luft, hustete erneut und bemerkte, dass die Zigarette auf etwas gelandet war, das unter der Schaukel lag. Bei näherem Hinsehen erkannte er eine dunkle Gestalt, die sich bewegte. Als sich seine Atmung normalisiert hatte, stellte er fest, das sich diese Gestalt nicht nur herumwälzte, sondern auch Geräusche von sich gab: Sie stöhnte.
Timm sprang auf und lief hinüber. Unter der Schaukel lag ein Mann rücklings auf dem Boden. Er krümmte sich, dann hustete er und erbrach im nächsten Moment. Das Erbrochene schwappte über die Mundwinkel, lief in den Rachen zurück. Der Mann gab erstickte Laute von sich. Timms Gedanken gerieten in Aufruhr. Was sollte er tun? Am besten Hilfe holen!
»Ich … ich hole jemanden, ja? Ich komme gleich wieder, bestimmt!«
Die Augen des Mannes traten aus den Höhlen. Seine Zunge schnellte vor, begleitet von Würgegeräuschen.
Timm wich zurück, machte kehrt und rannte durch das offene Holztor. Als er über den Parkplatz lief, kam ihm eine Fernsehsendung über Bon Scott in den Sinn, den Sänger von AC/DC, der im Alkoholrausch an seinem Erbrochenen erstickt war. Der Moderator hatte erklärt, dass Scott noch leben könnte, wenn man ihn beizeiten auf die Seite gedreht und den Kopf überstreckt hätte. Die Entscheidung über Leben und Tod hing oft nur von Kleinigkeiten ab. Davon, dass man zum Beispiel im richtigen Moment das Richtige tat. Kurz blieb er unschlüssig stehen und rannte schließlich zurück. Wenn er den Mann gerettet hatte, blieb noch genug Zeit, um Hilfe zu holen.
Timm packte den reglosen Körper an der Schulter und drehte ihn zur Seite. Er streckte den Nacken nach hinten, so weit es ging. Der Mann hustete erneut – würgte den Inhalt von Mund oder Luftröhre heraus, der nun auf dem Rindenmulch landete, mit dem der Platz unter der Schaukel bedeckt war. Als er wieder frei atmen konnte, stemmte er sich auf
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