Die volle Wahrheit
Augen glühen rot!«, sagte William. »Was sollen wir jetzt machen?«
»Wie wär’s, wenn wir ihm noch einmal den Kopf abschneiden?«, schlug Boddony vor.
»Das war ein armseliger Witz!«, erwiderte Sacharissa scharf. »Witz? Habe ich vielleicht gelächelt?«
Otto stand auf, und fluchende Zwerge hingen an seinem dürren Leib. »In schrrecklicherr Nacht und bei wilden Gewitterrn, wirr kämpfen gegen des Bö
sen Macht, damit niemand muss mehrr zitterrn…«
»Er ist so stark wie ein Ochse!«, ächzte Gutenhügel.
»Vielleicht hilft es, wenn wir mitsingen!« Sacharissa kramte in ihrer
Handtasche und holte eine dünne blaue Broschüre hervor.
»Das habe ich mir heute Morgen bei der Mission am Schlachthofweg
besorgt. Es ist ihr Liederbuch! Und…« Sie begann wieder zu schniefen.
»Und es ist so traurig, der Titel lautet ›Im Sonnenschein gehen‹, und es…«
»Wir sollen singen ?«, fragte Gutenhügel, als ihn der zitternde Otto hochhob.
»Um ihm moralische Unterstützung zu geben!« Sacharissa betupfte sich die Augen mit einem Taschentuch. »Ihr seht ja, wie sehr er sich bemüht! Und er hat sein Leben für uns geopfert!«
»Um anschließend sofort mit einem neuen zu beginnen!«
William bückte sich und zog etwas aus den Überbleibseln des Ikonographen. Der Kobold war entkommen, doch das von ihm gemalte Bild war zu erkennen. Vielleicht zeigte es…
Es war keine besonders gute Aufnahme des Mannes namens Bruder Nadel: Das Gesicht war nur ein weißer Fleck im grellen Licht, das Menschen nicht sehen konnten. Doch die Schatten hinter ihm…
William sah genauer hin.
»Bei den Göttern…«
Die Schatten hinter Bruder Nadel lebten.
Bruder Nadel und Schwester Tulpe glitten und rutschten durch den Schneeregen. Pfiffe erklangen in der Düsternis hinter ihnen.
»Komm!«, rief Nadel.
»Diese …ten Säcke sind schwer !«
Jetzt kamen auch Pfiffe von der einen Seite. An so etwas war Herr
Nadel nicht gewöhnt. Wächter sollten weder eifrig noch organisiert sein. Er wurde nicht zum ersten Mal verfolgt – manchmal funktionierten die Pläne nicht richtig. Wenn das passierte, bestand die Aufgabe der Wächter darin, an der zweiten Ecke außer Atem zu geraten und aufzugeben. Zorn quoll in ihm empor. Diese Wächter machten es falsch.
Er bemerkte einen offenen Bereich neben sich, voller feuchter, dahinwirbelnder Flocken. Von weiter unten kam eine Art phlegmatisches Saugen; es klang nach einer sehr schlechten Verdauung.
»Dies ist eine Brücke!«, rief Herr Nadel. »Wirf sie in den Fluss!« »Ich dachte, wir wollten den Hund finden und…«
»Es spielt keine Rolle mehr! Wir werden sie alle los! Jetzt sofort! Damit wäre das Problem gelöst!«
Schwester Tulpe brummte eine Antwort und stoppte am Geländer. Die beiden heulenden und jaulenden Säcke verschwanden in der Tiefe. »Klang das etwa wie ein …tes Platschen?«, fragte Schwester Tulpe und starrte durch den Schneeregen.
»Wen kümmert’s? Lauf jetzt!«
Herrn Nadel schauderte es, als er weiterlief. Er wusste nicht, was im Schuppen geschehen war, aber er hatte das Gefühl, über sein eigenes Grab gewandert zu sein.
Er glaubte sich nicht nur von Wächtern verfolgt und beschleunigte.
In widerstrebender, aber wundervoller Harmonie – niemand konnte besser singen als eine Gruppe von Zwergen, selbst wenn das Lied »Darf ich reines Wasser saugen?« * hieß – bemühten sich Gutenhügel und die anderen, Otto zu beruhigen.
Inzwischen war die grässliche Notfall-Blutwurst geholt worden. Für einen Vampir war sie wie eine Zigarette aus Pappe für einen hoffnungslos Nikotinsüchtigen, aber wenigstens war sie etwas, in das Otto hineinbeißen konnte. Als William schließlich den Blick vom Grauen der Schatten abwandte, wischte Sacharissa Otto die Stirn ab.
»Oh, errneut schäme ich mich so sehrr, wo kann ich mich verrstecken…«
William hob das Bild. »Was hat dies zu bedeuten, Otto?«
In den Schatten zeigten sich schreiende Münder und weit aufgerissene Augen. Sie bewegten sich nicht, während man sie beobachtete, aber wenn man erneut auf das Bild sah, schien es, als befänden sich die Münder und Augen nicht an der gleichen Stelle wie zuvor.
Otto zitterte. »Oh, ich habe alle Landaale, eingesetzt«, sagte er. »Und?«
* Unter anderen Umständen wäre dies ebenso wahrscheinlich gewesen wie Kühe, die ›Ich möchte mit köstlicher Bratensoße bedeckt werden‹ singen.
»Das sieht schrecklich aus«, hauchte Sacharissa und wandte sich von den gequälten Schatten
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