Die volle Wahrheit
Trolle und hier und dort auch Men-
schen. Im flackernden Fackelschein betrachteten sie die dahingleiten-
den Abfäl e. Gelegentlich griff eine Hand nach einem Gegenstand und
warf ihn in einen der Behälter hinter den Arbeitern.
»Fischköpfe, Knochen, Lumpen Papier… Inzwischen haben wir sie-
benundzwanzig verschiedene Behälter, darunter einen für Gold und
Silber – ihr würdet staunen, was die Leute alles wegwerfen. Klimper,
klimper, kleines Ding, bald folgt dir der Hochzeitsring… Das habe ich
meinen Töchtern vorgesungen, als sie klein waren. Kram wie eure Zei-
tung kommt in Behälter sechs, Papierabfälle geringer Qualität. Das
meiste davon verkaufe ich Werner Weichwisch in Fünf-und-Sieben-
Hof.«
»Was fängt er damit an?«, fragte William. Das mit der geringen Quali-
tät war seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen.
»Er stampft alles ein und macht Toilettenpapier daraus«, sagte Paul
König. »Meine Frau schwört darauf. Was mich betrifft… Ich ziehe den
Rohstoff vor.« Er seufzte und schien die plötzliche Verringerung von
Williams Selbstachtung nicht zu bemerken. »Wenn ich hier manchmal
am Abend stehe und das Band knarrt und das Licht der untergehenden
Sonne spiegelt sich auf den Behältern… Ich schäme mich nicht zu-
zugeben, dass mir dann gelegentlich Tränen kommen.«
»Um ganz ehrlich zu sein: Mir geht’s ebenso!«, sagte William.
»Nun, Junge… Als man mir die erste Klimperkugel abnahm, bin ich
nicht rumgelaufen, um mich irgendwo auszuweinen. Ich wusste, dass
ich weitere finden würde, und so war es auch. An meinem achten Ge-
burtstag bezahlte ich zwei Trolle und beauftragte sie, den Burschen
durch die Mangel zu drehen, der mir die erste Klimperkugel wegge-
nommen hatte. Wusstest du das?«
»Nein, Herr König.«
Paul König musterte William durch den Zigarrenrauch. Wil iam spür-
te, dass er wie ein Objekt im Müll hin und her gedreht und sorgfältig
untersucht wurde.
»Meine jüngste Tochter Hermione… Sie heiratet Ende nächster Wo-
che«, sagte Paul. »Eine große Sache. Im Tempel von Offler. Mit Chor-
gesang und so. Ich lade al e feinen Pinkel ein. Effie besteht darauf. Aber sie kommen natürlich nicht. Nicht zu Pisse-Paul.«
»Die Times wäre dabei, um Bericht zu erstatten«, sagte William. »Mit farbigen Bildern. Allerdings sind wir ab morgen aus dem Geschäft.«
»Farbige Bilder? Ihr habt jemanden gefunden, der sie malt?«
»Nein, wir… verfügen über eine besondere Methode«, erwiderte Wil-
liam und hoffte inständig, dass Otto nicht zu viel versprochen hatte. Er
setzte alles auf eine Karte, und die war kein Ass, sondern ein Vampir.
»Das wäre sicher ein interessanter Anblick«, sagte Paul. Er nahm die
Zigarre aus dem Mund, betrachtete ihr Ende nachdenklich und schob
sie sich wieder zwischen die Lippen. Dann blickte er erneut durch den
Rauch und musterte William.
William spürte das ausgeprägte Unbehagen eines gebildeten Mannes,
der sich mit der Tatsache abfinden muss, dass der Ungebildete ihm
gegenüber viel schlauer ist.
»Wir brauchen das Papier, Herr König«, sagte er.
»Du hast etwas an dir, Herr de Worde«, entgegnete der König. »Ich
nehme die Dienste von Schreibern in Anspruch, wenn ich sie brauche,
aber du scheinst mir kein gewöhnlicher Schreiber zu sein. Ich halte dich
für jemanden, der durch eine Tonne Scheiße kriechen würde, nur um
einen Groschen zu finden, und ich frage mich, was der Grund dafür
sein mag.«
»Würdest du uns bitte Papier zum alten Preis verkaufen, Herr Kö-
nig?«, fragte William.
»Das geht nicht. Ich hab’s euch bereits erklärt. Abgemacht ist abge-
macht. Die Graveure haben mich bereits bezahlt.«
William setzte zu einer Antwort an, aber Gutenhügel legte ihm die
Hand auf den Arm. Der König schien einen ganz bestimmten Gedan-
kengang zu Ende zu führen.
Erneut trat er zum Fenster und richtete einen stummen Blick auf den
Hof mit den dampfenden Haufen. Dann…
»Na, ist das zu fassen?«, brummte er und wich wie verblüfft einen
Schritt zurück. »Seht ihr den Karren beim anderen Tor dort drüben?«
Sie sahen den Karren.
»Ich hab’s den Jungs bestimmt hundert Mal gesagt: Lasst keine bela-
denen Karren am offenen Tor stehen. Jemand könnte ihn stehlen, hab
ich gesagt.«
William fragte sich, wer ausgerechnet dem König des Goldenen Flus-
ses etwas stehlen würde, jenem Mann mit den vielen rot glühenden
Komposthaufen.
»Das ist das letzte Viertel der Lieferung für die
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