Die vollkommene Kämpferin (German Edition)
durch den Wald, während ich die Ohren spitzte und auf das nächste drohende Knurren wartete, doch ich hörte nichts. Nur das Geräusch unserer Schritte, während wir durchs Unterholz brachen, ohne uns die Mühe zu machen, unsere Spuren zu verwischen. Lux’ Rufe wurden lauter und lauter, bis die Verzweiflung, die aus seiner Stimme klang, wenn er den Namen seines Bruders schrie, mir das Herz brach.
Schließlich blieb er stehen, genauso außer Atem wie ich. Sein Blick war wirr, mit den Händen suchte er nach etwas, das nicht mehr an seiner Seite war. „Casey!“ , schrie er mit aller Kraft und voller Verzweiflung.
„Lux – Lux, er ist nicht hier.“ Sanft berührte ich ihn am Ellbogen, doch er zuckte zurück und hob die Faust, als wollte er mich ebenfalls schlagen. Dann trafen sich unsere Blicke, und einen Moment später ließ er die Deckung fallen.
„Das ist deine Schuld. Du bist der Grund, aus dem wir getrennt wurden.“
„Nein, bin ich nicht“, widersprach ich, doch mit Vernunft konnte ich ihn jetzt nicht erreichen. Er sackte gegen einen Baum, zusammengekrümmt und blass vor Erschöpfung. Jetzt verstand ich endlich, warum Casey ihn dazu hatte bringen wollen, sich auszuruhen. Er konnte kaum aufrecht stehen.
„Es ist deine Schuld“, wisperte er, sank zu Boden und grub die Fingernägel in die Erde. Als er die Augen schloss, rollten Tränen über seine Wangen und zogen helle Spuren durch den Dreck, der sein Gesicht verschmierte. „Er ist fort, und du bist schuld.“
Ich blieb stumm. Nichts, was ich sagen oder tun könnte – außer Casey herbeizuzaubern –, würde das hier für ihn erträglicher machen. Meine Sorge bereitete mir körperliche Schmerzen, doch Casey war bei James, und der würde nicht zulassen, dass ihm etwas geschah. Er durfte es nicht zulassen.
Mit einem Schluchzen, als würde es ihn von innen heraus zerreißen, hob Lux das Gesicht zum Sternenhimmel und schrie. Das Geräusch durchdrang mich bis in den letzten Winkel meines Seins. Ich schloss die Augen. Nach allem, was die Zwillinge durchgemacht hatten, würde dies nicht das Ende sein. Dafür würde ich sorgen.
HENRY
Müde ließ sich Henry gegen die Rückenlehne seines schwarzen Diamantthrons sinken. Mit einer Handbewegung schickte er die Frau, mit der er den halben Tag lang diskutiert hatte, zurück in ihr jenseitiges Leben. Eine anständige Debatte ließ er sich gern gefallen, doch nach Stunden um Stunden irrationaler Sturheit im Angesicht purer Logik und Vernunft wäre er am liebsten kopfüber in den Styx gesprungen.
Von allen Ratsmitgliedern war er derjenige, der am ehesten Verständnis aufbringen konnte für jene, denen ein Schicksal zugewiesen worden war, das sie nicht gewollt hatten. Doch nicht das Schicksal selbst war es, worauf es ankam; es war die Art, wie eine Seele damit umging, über die er urteilen musste. Die überwältigende Mehrheit der Bürger seines Königreichs setzte niemals einen Fuß in seinen Thronsaal, und das war ihm auch ganz recht so. Doch für jene, die zu ihm kamen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, welche Art Leben nach dem Tod sie verdienten, sprach er seine Urteile so fair und unvoreingenommen, wie es ihm nur möglich war. Manchmal war es ein glückliches Leben im Jenseits, manchmal nicht. Immer jedoch stand er zu seinen Entscheidungen, egal, wie hitzig die Diskussion auch wurde.
„Wie ich sehe, hattest du einen harten Tag“, erklang eine vertraute Stimme, und Henry blickte auf. Zwischen den Säulen, die den Gang zum Thron säumten, stand Walter, die Mundwinkel nach unten gezogen.
„Ja, in der Tat“, bestätigte Henry. „Und ich habe das untrügliche Gefühl, dass es gleich noch schlimmer wird.“
„Vielleicht ja, vielleicht auch nicht“, sagte Walter. „Das hängt nur davon ab, was dir mehr wert ist.“
Henry runzelte die Stirn. So eine Unterhaltung würde das also werden. Walter kostete jede Gelegenheit aus, den anderen Ratsmitgliedern Informationen vorzuenthalten. „Komm auf den Punkt.“
„Nicht gleich so gereizt. Sonst beschließe ich vielleicht, es dir doch nicht zu erzählen.“
„Wunderbar, dann lass es.“ Henry stand auf und spürte jedes einzelne seiner ewigen Jahre in den Knochen, als er sich streckte.
Für den Bruchteil einer Sekunde sah Walter schockiert aus, und Henry musste ein Lächeln unterdrücken. Diese Taktik funktionierte immer. Auch wenn Walter der mächtige und rechtmäßige König des Himmels war – die eine Sache, mit der er nicht umgehen konnte, war,
Weitere Kostenlose Bücher