Die Wacholderteufel
Sanders, wo steckst du denn? Sag nicht, du musst noch arbeiten. Wusste ich doch, dass ihr ohne mich aufgeschmissen seid. Hm, dann rufe ich morgen wieder an. Tschüs! Gute Nacht!»
6
Schlafen konnte man das nicht nennen. Wirklich nicht.
Gerädert erhob Wencke sich aus dem schmalen Bett. Nicht, dass es nicht bequem gewesen wäre. Und da sie im vierten Stock untergebracht war, wo nur Einzelzimmer lagen, hatte auch kein Kindergeschrei sie wach gehalten. Es war etwas anderes gewesen. Sie selbst hatte sich vom Schlafen abgehalten.
Noch nie war ihr bewusst geworden, dass sie Angst vor dem Nachdenken hatte. Und damit meinte sie jetzt nicht das Nachdenken über ihren Job. Denn es gab eigentlich nichts Beruhigenderes, als sich den Kopf über aktuelle Fälle der Auricher Mordkommission zu zerbrechen. Wenn ihr letzter Gedanke am Abend einem jugendlichen Selbstmörder oder einer pflegebedürftigen Oma galt, die trotz langer Krankheit dann ganz plötzlich an Sauerstoffmangel verstorben war, oder auch einer nicht identifizierten Wasserleiche auf einer ostfriesischen Insel – alle diese für andere Menschen vielleicht schrecklichen Dinge waren für sie inzwischen zu einer ungewöhnlichen Leidenschaft geworden, die sie aufrecht hielt. Und ruhig schlafen ließ.
Deswegen hätte Wencke gestern auch noch zu gern mit Axel Sanders telefoniert. Er hätte ihr bestimmt ein paar Neuigkeitenvon dem toten Mädchen aus Dornumersiel geliefert, und sie hätte diese Sachen dann ganz prima in ihrem Kopf hin- und herbewegen können, so wie sie es immer tat, bis ihr die Augen zufielen. Aber er war nicht da gewesen, nur der Anrufbeantworter mit der so vertrauten Ansage. Sicher musste Axel Überstunden schieben, weil die Kollegen viel zu tun hatten, so wie immer in Aurich. Vielleicht hatte es inzwischen noch einen neuen Fall gegeben? Und sie war nicht da.
Also hatte Wencke das Bett zerwühlt und festgestellt, dass die Arbeit, so stressig und hart sie auch manchmal zu sein schien, sie dennoch vor viel Stressigerem und Härterem zu schützen vermochte. Nämlich vor sich selbst. Und den Gedanken an die verfahrene Situation, in der sie gerade steckte.
Ein paar Mal kamen ihr noch Nina Pelikan und der letzte Satz des Abends in den Sinn. Sie hatte davon gesprochen, einen Menschen getötet zu haben. Wencke war nicht darauf eingegangen. Sie hatte der unscheinbaren Frau keinen Glauben geschenkt, die sich wohl wegen ihres ereignislosen Jobs im Supermarkt bestimmt nur wichtig machen wollte, obwohl Wencke sie gar nicht so eingeschätzt hätte. Heute wollte sie ihr lieber so weit wie möglich aus dem Weg gehen.
Sie zog den hellgrauen Sportanzug an. Am Bund war die Hose schon etwas eng. Der Blick in den Spiegel war sehr unerfreulich. Die ersten Wassereinlagerungen machten sich bereits jetzt bemerkbar. Ein Mondgesicht glotzte sie an. «Na, so schlimm ist das aber nicht. Ich habe im fünften Monat schon ganz anders ausgesehen», hatte ihre Mutter sie beruhigt. «Nun freu dich doch drauf. Weißt du noch, als du vor zwei Jahren Tante geworden bist, warst du ganz versessen auf Babys.»
Das stimmte. Wencke hatte vor nicht allzu langer Zeit darüber gebrütet, wann es denn bei ihr so weit sein könnte und ob sie überhaupt jemals eine Familie gründen würde und den ganzen Kram. Aber diese Grübeleien hatten sich wiedergelegt. Sie dachte, sie wäre darüber hinweg. Und dann hatte sie Ansgar wieder getroffen, den langweiligen, ewig den Rücken streichelnden, einfühlsamen, fast schon devoten Ansgar. Sie hatten für einen knappen Monat ihre Beziehung wieder belebt, bis Wencke sich nur zu gut an die Gründe erinnern konnte, aus denen sie ihn vor ein paar Jahren verlassen hatte. Sie hatte es kurz und schmerzlos hinter sich gebracht. Und als Ansgar erfahren hatte, dass diese Geschichte nicht ohne Folgen geblieben war, hatte er sich von einer sehr unangenehmen Seite gezeigt: Er wollte mit ihr zusammenziehen, er wollte mit ihr einen Geburtsvorbereitungskurs machen, er wollte darüber diskutieren, welchen Nachnamen das Kind tragen würde. Und er wollte sie von ihrer geliebten Arbeit abhalten. Da hatte Wencke ihn kurzerhand und nicht ohne Geschrei zum Teufel geschickt.
Der Tag in der
Sazellum -Klinik
begann mit Kneipp’schen Güssen. Gegen die unschönen Krampfadern, hatte der Arzt beim gestrigen Aufnahmegespräch bemerkt. Welche unschönen Krampfadern?, hatte Wencke gefragt. Na, die dicken blauen Stränge an Ihren Waden. Kneipp’sche Güsse jeden Morgen um halb acht. Und
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