Die Wacholderteufel
damals in der Sache nicht persönlich begegnet, aber wenn Nina ihm vorgestern von ihren Ängsten berichtet hatte, von dem vermeintlichen Mord, den sie begangen hatte, von dem zugesteckten Zeitungsausschnitt, spätestens da hätte er doch schalten müssen. Ilja Vilhelm war ein intelligenter Mann, es war sein Job, Zusammenhänge wie diesen bei seinen Patienten zu erkennen. War ihm das nicht schließlich bei Wencke hervorragend gelungen? Warum sollte er dann bei Nina Pelikan so gar kein psychologisches Feingespür zeigen? Zumal ihm doch die Krankenakte vorlag, auf der mit Sicherheit Geburtsort und -name vermerkt waren. Und spätestens dann hätte er sich daran erinnern müssen, auch wenn nicht er selbst, sondern eine seiner Mitarbeiterinnen das elf Jahre alte Gutachten unterschrieben hatte. Der Fall von damals musste ihm doch zumindest zu Ohren gekommen sein.
Wencke stellte das Fahrrad hastig in den Schuppen am Hintereingang und ging ohne Zögern in den dritten Stock, wo sich Vilhelms Zimmer befand. Sie wollte ihn direkt zur Rede stellen. Auch wenn sie damit verriet, dass sie sich – entgegen der Abmachung – seit ihrer letzten Therapiesitzung nicht gerade geschont hatte. Doch allein der Gedanke daran, wie Vilhelm ihre Ängste um Nina abgetan hatte, als sei die Sache ein normaler oder sogar unwichtiger Fall, machte sie wütend. Er hätte schon längst in Alarmbereitschaft sein müssen. Wencke war überhaupt nicht gewillt, diesem Mann noch ein Sterbenswörtchen über ihre geheimsten Geheimnisse zu erzählen. Nun sollte er erst einmal reden.
Noch mehr ärgerte sie das Verhalten der Klinikleitung. Hatten die Mitarbeiter der
Sazellum -Klinik
nicht täglich eine Teambesprechung? Und musste das Verschwinden einer Patientin nicht Thema gewesen sein? Warum, in Dreigottesnamen, hatte niemand eins und eins zusammengezählt unddie alte Geschichte von Janina Grottenhauer mit dem aktuellen Verschwinden von Nina Pelikan in Zusammenhang gebracht? Man konnte fast meinen, sie steckten alle unter einer Decke, sie wollten alle etwas vertuschen, die ganze Bagage, sei es nun die überkandidelte Meyer zu Jöllenbeck oder dieser Scheinheilige namens Ilja Vilhelm.
Die Tür zu seinem Büro stand offen. Wie gut, dann musste Wencke nicht aus Diskretionsgründen warten, bis eine ihrer Mitpatientinnen ihren Seelenstriptease beendet hatte. Sie trat ein, ging durch den kleinen Garderobenflur, überlegte kurz, an die nur angelehnte Tür zu klopfen, und entschied sich dagegen. Sie riss die Tür auf, starrte ins Zimmer, brauchte jedoch ein paar Sekunden, bis sie die Situation erfasst hatte. Brauchte noch länger, bis sie kapierte, dass dies nicht der passende Zeitpunkt war, um mit Vilhelm Tacheles zu reden.
Das Zimmer war nahezu auf den Kopf gestellt. Sämtliche Schubladen waren herausgerissen worden, beinahe alle Akten aus den Regalen geschleudert, man konnte vor lauter herumliegendem Papier kaum den Teppichboden erkennen. Mittendrin stand Vilhelm mit ungläubigem Gesichtsausdruck, die Arme ratlos vom Körper gespreizt wie das rote Männchen auf der Fußgängerampel. Neben ihm stand Viktoria Meyer zu Jöllenbeck, sie sah aus, als habe sie sich eben ziemlich aufgeregt. Beide wandten sich Wencke zu. Als ein loser Ordner zu Boden fiel, kam wieder Bewegung in die drei Menschen.
«Dass Sie sich hierher trauen», sagte Vilhelm, und es dauerte einen Moment, bis Wencke verstand, dass er sie meinte. «Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Denken Sie tatsächlich, Sie könnten mit Ihren Schnüfflermethoden hier in unserer Klinik machen, was Ihnen gefällt? Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Sch …»
«Ilja!» Viktoria Meyer zu Jöllenbeck fasste ihn beruhigend am Oberarm. Dann sah auch sie vorwurfsvoll zu Wencke. Sicherhätte sie lieber Vilhelms letzten Satz vervollständigt, sie hatte sich lediglich besser unter Kontrolle. «Frau Tydmers, wie konnten Sie nur?»
«Was?», fragte Wencke. Sie konnte es nicht fassen. Eigentlich war sie es doch, die hier vorwurfsvoll schauen sollte. Stattdessen schien sie nun am Pranger zu stehen.
«Es ist eine Unverschämtheit. Sie brechen mein Büro auf und durchstöbern streng vertrauliches Material!»
«Wie bitte?»
«Überlegen Sie mal, wie Sie sich fühlen würden, wenn jemand einfach so in Ihrer Akte wühlte und all das zu lesen bekäme, was Sie mir anvertraut haben.»
«Wie kommen Sie darauf?»
Er lachte humorlos auf. «Wie ich darauf komme? Na, hören Sie mal! Das Schloss ist professionell geknackt.
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