Die Wacholderteufel
müde. Sie spürte eine ungeheure Sehnsucht, sich nur einen Moment auf das Bett zu legen. Stattdessen sank sie auf die Couch und beobachtete die beiden beim Aufräumen.
Es war Viktoria Meyer zu Jöllenbeck, die das peinliche Schweigen schließlich beendete. «Wer war es dann?», fragte sie. «Wer hat dieses Chaos angerichtet?»
Und erst jetzt wurde Wencke richtig bewusst, dass irgendjemand ihre Papiere in der Hand hielt. Dass ein Fremder oder Bekannter, wer auch immer es gewesen war, sich vielleicht jetzt in diesem Augenblick über ihre Geschichte hermachte. Über ihre eigenen, geheimen Probleme mit dem Vater, mit der Mutter, mit dem Baby, mit sich selbst. Sie zog ihre Jeansjacke fester um den Bauch. Trotzdem fühlte sie sich nackt. Ein leiser Schmerz breitete sich aus, erst im Unterleib, dann im ganzen Körper.
25
Die Sonne würde um 16.16 Uhr untergehen. Dann begann die längste Nacht des Jahres, dann begann der Winter, dann begann das Julfest an den Externsteinen. In genau zwei Stunden.
Der Regen hatte gegen Mittag aufgehört und einem – von sämtlichen Wetterstationen nicht vorhergesagtem – trockenen Frost Platz gemacht, der die Luft glasklar und schneidend kalt machte. Es war genau das richtige Wetter für das Fest. Die Menschen, die bereits grüppchenweise auf dem Rasen eintrafen und sich um die brennenden Tonnen versammelten, stießen sichtbaren Atem aus, rieben sich die Hände über der Glut, hüllten sich in dicke Mäntel. Nur wenige sprachen. Die Stimmung war nicht danach. Wenn man sich bewusst machte, dass nun die Dunkelheit für viele Stunden ihre kalte Decke ausbreitete, war jedes Wort zu viel. Zudem wurde anderswo in dieser Zeit so viel gequatscht und palavert. Die Vorweihnachtszeit war unangenehm laut geworden in den letzten Jahren. Die besinnliche Musik, die von Sternen und Schnee und Vorfreude erzählte, erschallte in allen Ecken, auf allen Straßen, im Radio und im Fernsehen. Sie hatte ihren Zauber schon so lange eingebüßt und war nur noch eine Art Hintergrundgeräusch für den hektischen Advent.
Wie schön, dass die Wintersonnenwende noch so unberührt war von dem ganzen Radau, dachte Stefan Brampeter. Dies war sein Fest, genau nach seinem Geschmack.
Er hatte mit dem Lieferwagen die zwölf Holzräder hierher gebracht, für jeden Monat des Jahres eines, oder für jeden der nun folgenden Dutzend Tage, in denen die Tore zur Zwischenwelt angeblich geöffnet waren. Die Räder standen bereits mit Heu gespickt im Wärterhäuschen.
Der Ärger um die verschwundenen Schlüssel hatte sich Gott sei Dank gelegt. Achim hatte sich überzeugen lassen, dass Stefan nichts damit zu tun hatte, und verdächtigte nun einen seiner Männer, was Stefan egal sein konnte. Er hatte sich dann doch noch getraut zu fragen und sich mit Achims Genehmigung die Leitern ausgeborgt. Seit einer Stunde war er gemeinsam mit den anderen
Wacholderteufeln
dabei, alles herzurichten. Zum Glück waren die Talente im Verein gut verteilt, während sich die eine Hälfte um die Beschallung und die Funktionsfähigkeit der ansteckbaren Funkmikrophone kümmerte, waren Stefan und Konrad und ein paar andere damit beschäftigt, die Strahler und Effektgeräte auf und an den Felsen zu platzieren. Am wichtigsten waren dabei die Schattenwürfe. Wenn der Wacholderteufel, umgeben von Dunstschwaden aus der Nebelmaschine, genau zur Sonnenuntergangszeit in der Höhenkammer auftauchte, dann sollte sein Schatten riesig und verzerrt auf dem dahinter liegenden Felsen erscheinen. Bislang gab Konrad zur Stellprobe den Teufel. Stefan richtete den Scheinwerfer, und Achim vom Forstamt gab über das Funkgerät von unten her Kommandos, wie man den Lichtstrahl auszurichten habe. Horst, der als Hilfsarbeiter bei Achims Truppe mitarbeitete, füllte in der Nebelmaschine die Flüssigkeit nach. Die Chemikalie roch irgendwie staubig, und Horst musste husten.
«Das sollte reichen», sagte Stefan. Er wollte keine weiteren Versuche mehr, denn inzwischen hatte sich die Wiese schon zu einem Drittel gefüllt, und es wäre schade, wenn das Publikum die Effekte bereits jetzt schon zu sehen bekam. Auch wenn die Wirkung bei Dunkelheit noch um einiges eindrucksvoller sein würde.
«Warte noch eben einen Moment», kam Achims Stimme aus dem Funkgerät. «Das mit dem Nebel ist noch nicht optimal. Wo steht die Maschine jetzt?»
«Auf dem Boden der Höhenkammer. Wieso, was ist?»
«Von hier unten sieht der Qualm nicht besonders spektakulär aus. Kannst du den Kasten nicht
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