Die Wacholderteufel
schade, dass Mama noch immer nicht da war. Wirklich, sie würde etwas verpassen. Aber Wencke hatte ihm hoch und heilig ihr Kommen zugesagt. Obwohl sie vorhin beim Mittagessen etwas durcheinander zu sein schien, hatte sie noch einmal die schwierigen Textpassagen mit ihm geübt. Sie würde ihm später zuwinken, hatte sie versprochen.
Herr Brampeter hatte gesagt, dass man heute mit mehr als tausend Leuten rechnete. Und sie alle würden ihn sehen und hören, ihn beobachten, wie er ein Teufelskind spielte. Und sich über ihn kaputtlachen, wenn er den Text vergaß. Oder darüber reden, wie dick er war.
Mattis wusste, dass er eine blöde Figur hatte. Sein Kinderarztsagte es immer wieder, er gab ihm bei jeder Untersuchung ein kleines Heftchen mit, in dem etwas über gesunde und vitaminreiche Nahrung stand, und dass zu viel Süßes nicht nur schlecht für die Zähne sei, sondern auch auf Dauer das Blut kaputtmachte und das Herz und die Nieren und überhaupt alles. Mattis war nicht sportlich, er war nicht schnell dabei, er war einfach viele Dinge nicht. Vor allem war er nicht wie seine Mutter.
Gestern beim Hermannsdenkmal hatte er das erste Mal überhaupt davon gesprochen, dass er so gern mal seinen Vater getroffen hätte. Nachgedacht hatte er schon oft darüber, besonders wenn er abends in seinem verschlossenen Bremer Zimmer Hartmut schimpfen hörte. Dann träumte er oft von seinem wirklichen Vater. Aber noch nie hatte er seiner Mutter oder irgendwem sonst gegenüber ein Wort darüber verloren.
Wencke jedoch war eine Frau, der man so etwas anvertrauen konnte. Seiner Mutter hätte Mattis nicht verraten, dass er sich manchmal so halb fühlte. So, als sei er eines dieser Tintenklecksbilder, wo man nur eine Seite bemalte und dann das Blatt zusammenklappte, damit sich auf der anderen Seite ein spiegelverkehrter Abdruck bildete. Das sah dann sicher schön aus, war aber eben doch nur eine Hälfte von dem, was es eigentlich hätte werden können. Wencke hatte das gestern gleich kapiert, sie hatte sogar gesagt, dass sie ein ganz ähnliches Problem habe.
Mattis fingerte an seinem Umhang. Was war eigentlich ein Teufelskind? Er hatte mal gehört, dass Schauspieler sich in ihre Rolle reindachten, indem sie Gemeinsamkeiten mit der Figur suchten. Es war nicht so, dass Mattis nun mit einer Karriere als Hollywoodstar rechnete, aber er wollte trotzdem an diesen unheimlichen Externsteinen seine Sache so gut wie möglich machen. Oder so wenig peinlich wie möglich. Und wenn es schon nicht sein Ding war, den Text zu behalten, so wollte erwenigstens vom Aussehen und von den Bewegungen her ein glaubwürdiges Teufelskind abgeben.
«Ich bin ein armes Teufelskind, so heiß wie das Feuer, so leicht wie der Wind …», flüsterte er ins Motorengeräusch. Seine Mutter war leicht wie der Wind. Sie war so dünn wie ein Herbstblatt, so müde und verwelkt, dass sie sich schnell und von allen und jedem umpusten ließ. Aber war sein Vater so heiß wie Feuer gewesen? Ein echter Kerl, mutig und stark, so wie der Mann, der heute den Wacholderteufel spielte und auf dem Felsen herumklettern würde? So einen wünschte Mattis sich nicht als Vater, er wollte von keinem echten Helden abstammen. Wenn er ehrlich war, dann malte er sich einen dicken, unsportlichen, netten Kerl aus. Einen, der längst nicht alles hinkriegt, der etwas trottelig ist, aber lieb. So ähnlich wie dieser Tischler, der so etwas wie ein Chef bei diesem Fest zu sein schien. Der war kein toller Typ, kein Held oder so. Aber trotzdem richtig nett. Er wünschte sich, irgendwann einmal seiner fehlenden Hälfte zu begegnen, und sie wäre so ähnlich wie Herr Brampeter.
«Von keinem geliebt und von keinem geehrt …» Das stimmte nicht. Seine Mutter liebte ihn. Daran gab es keinen Zweifel. Auch wenn sie ihn hier im Stich ließ, wenn sie sich einfach aus dem Staub gemacht hatte und es darauf ankommen ließ, dass er sich auch ein paar Tage allein zurechtfand, er wusste, seine Mutter hatte ihn wirklich gern. Sie hatte viel für ihn in Kauf genommen, damals, als sie mit siebzehn Jahren ein Kind gekriegt hatte, die ersten drei Jahre in einem Heim für jugendliche Mütter lebte und nebenbei noch eine Ausbildung machte. Und er ahnte, dass sie damals auch nur wegen ihm Hartmut geheiratet hatte. Weil sie sich nach einer eigenen Wohnung gesehnt hatte, nach einem geordneten Familienleben. Und Hartmut als Schulhausmeister hatte vieles zu bieten. Mattis konnte den Schulhof am Nachmittag zum Spielen
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