Die Wacholderteufel
wieder auf, und Wencke musste die Lider schließen, ruhigdurchatmen, verharren, sich selbst finden. Wann ratterte der Lift endlich nach unten?
Das Rauschen der sich schließenden Türen wurde mit einem Klacken jäh unterbrochen. Wencke öffnete die Augen und sah einen Fuß im Türspalt. Es war ein Männerschuh, der sich energisch in den Lift zwängte und die Schiebetüren wieder zum Öffnen zwang. Ein Mann mit grimmigem Blick trat zu ihr in den engen Raum, blickte den erleuchteten Erdgeschoss-Schalter an und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die mit dunkler Holzmaserung vertäfelte Fahrstuhlwand.
Es roch auf einmal irgendwie nach Schwimmbad. Oder vielleicht lag dieser Chlorgeruch auch immer in der Fahrstuhlluft, immerhin führte der Lift direkt in den Keller, wo das Hallenbad war. Doch es war Wencke noch nie so aufgefallen, und sie hielt unwillkürlich die Luft an. Der Fremde war sehr groß, seltsam grau im Gesicht. Als er sich räusperte, erkannte Wencke eine tiefe Stimme dahinter, ein lautes Organ, zweifelsohne ein Mann, der nicht gern flüsterte. Sie hatte ihn noch nicht hier in der Klinik oder auf dem umliegenden Gelände gesehen. Vielleicht war er ein Hausmeister, ein Techniker, irgendetwas. Im Grunde genommen gab es keinen Grund, diesen Kerl verdächtig zu finden, nur weil er auf den letzten Drücker zu Wencke in den Fahrstuhl geschlüpft war und so aussah, als wäre er ziemlich schlecht gelaunt. Doch Wenckes Intuition verriet ihr etwas anderes. Ihre Intuition verhieß ihr Gefahr.
Die Kabine setzte sich in eine Abwärtsbewegung. Endlich traute sich Wencke, Luft zu holen. Der Mann hatte bislang ins Nichts gestarrt, seine von tiefen Falten umzogenen Augen hatten auf einem Punkt zwischen der Aufzuganzeige und dem ausgehängten Wochenspeiseplan geruht. Doch urplötzlich bewegte sich sein Kopf, er wandte sich Wencke zu und blickte sie direkt an. Zeitgleich schnellte sein Arm nach vorn, fassten seine kräftigen Finger nach dem kleinen roten Hebel nebender Alarmklingel und legten ihn nach oben. Mit einem Ruck stoppte der Lift.
«Was machen Sie da?», fragte Wencke. Doch der Kerl starrte sie nur weiter an.
«Ich habe es eilig, hören Sie? Bitte legen Sie den Schalter wieder um.»
Wencke war klar, dass der Fremde ihrer Aufforderung nicht nachkommen würde, es war mit Sicherheit kein Versehen gewesen. Wencke wollte selbst nach dem Schalter fassen, oder zumindest den gelben Notruf drücken, um irgendjemanden auf ihre Lage aufmerksam zu machen, doch auf dem Weg zur Schaltleiste griff der Mann ihren Arm und ließ Wencke keine Chance, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.
«Lassen Sie mich sofort los!»
Was wollte er von ihr? Nur kurz kam ihr der Gedanke, in diesem Moment einem Vergewaltiger gegenüberzustehen, der in der Klinik auf ein hilfloses Opfer gelauert hatte. Wencke hatte in ihrem Job mehr als einmal solchen Schweinen begegnen müssen. Doch dieser Kerl hier war ihr nicht zufällig gefolgt. Wer immer er war, er hatte etwas mit der ganzen Geschichte, mit Nina Pelikan und den Wacholderteufeln, mit Mattis und dem Strichmännchen am Baum zu tun. Und er hatte nicht auf irgendein hilfloses Opfer, sondern auf sie, auf Wencke, gewartet. Alles andere wäre hanebüchner Zufall. Diese Gedanken schossen sekundenschnell durch Wenckes Kopf, ebenso die Vorstellung, ihn nach allen Regeln der Selbstverteidigung niederzustrecken. Doch sämtliche Handkantenschläge, Tritte in die Weichteile und Kniffe in die Augenhöhlen waren in einem engen Raum wie diesem genauso sinnlos wie gefährlich. Wenn sie keine Fluchtmöglichkeit hatte, war sie über kurz oder lang seinen ungleich gewaltigeren Kräften ausgeliefert.
Er hielt noch immer ihre Handgelenke fest umklammert, er starrte sie noch immer an, er sagte noch immer kein Wort. Siewar ihm sehr nahe, hatte seinen Atem in ihrem Gesicht, roch, dass er allem Anschein nach keinen Alkohol getrunken hatte, was die Situation noch beängstigender machte: Ihr stand ein Mann gegenüber, der im vollen Bewusstsein handelte. Trotz seiner grobschlächtigen Ausstrahlung merkte man ihm an, dass er nicht dumm war. Irgendwie war klar, dass er einen Plan hatte.
Es irritierte sie, denn neben seinem Geruch nach feuchter Winterluft nahm auch der Geruch nach Schwimmbad zu, je näher er an sie heranrückte. Unangenehm stach ihr der Chlorgeruch in der Nase.
Im Zeitlupentempo legte sie sich den nächsten Satz zurecht, bastelte mit Worten, die zwischen unterwürfigem Flehen und forschem
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