Die Wacholderteufel
Tydmers», hörte sie die Stimme am Telefon. «Etwas Sauerstoff wird Ihnen weiterhelfen, da bin ich mir sicher. Und wenn es doch noch schlimmer wird, holen wir den Arzt. Einverstanden?»
Wencke legte auf. Sie wusste, sie würde nicht vernünftig sein. Sie würde keinen Spaziergang machen. Nicht abwarten und in sich gehen. Sie blickte auf die Uhr. Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt des Busses. Nicht mehr viel Zeit, um sich an ihr Versprechen zu halten. Es musste schnell gehen, wenn sie Mattis nicht enttäuschen wollte. Sie fischte eilig den roten Pullover aus dem Schrank und warf sich die Jeansjacke über. Vor ihr lagen noch eine Menge Treppenstufen oder eine lange Wartezeit vor dem Lift.
Als sie die Tür öffnete, wäre sie beinahe ausgerutscht. Auf dem Boden lag ein großes Blatt Papier, kein Zweifel, das musste jemand unter der Tür hindurchgeschoben haben, was unmöglichein gutes Zeichen sein konnte. Wencke hatte mit ihrem Schuh bereits einen Abdruck darauf hinterlassen. Ansonsten war etwas recht unleserlich mit Bleistift an den Rand geschrieben worden. Wencke legte den Kopf schräg und entzifferte ihren Namen, daneben das Datum des gestrigen Tages.
Noch konnte sie es ignorieren. Einfach drüber hinwegsteigen, es vergessen, zur Wintersonnenwende gehen und nicht darüber nachdenken. In dem Moment, wo Wencke das Blatt aufhob, wusste sie schon, sie hätte es wirklich besser liegen lassen. Harmlose Briefe wurden nicht unter der Tür hindurchgeschoben. Sie wendete das Papier.
Es war der Baum. Ihr kleiner, selbst gemalter, persönlicher Baum mit den festen Wurzeln, den reifen Äpfeln und dem Astloch am Stamm. Und an einem der Äste hing ein mit Bleistift gekritzeltes Seil, an dem ein Strichmännchen baumelte.
Wenckes Herz schlug schneller, und sofort nahm der Druck um ihren Bauch wieder zu.
Was war das? Wer hatte ihr diesen üblen Streich gespielt? Oder war es mehr als das? War es eine konkrete Drohung?
Die Zeichnung war einerseits dilettantisch, andererseits hatte sich der «Künstler» dennoch die Mühe gemacht, die erhängte Figur mit einigen Details auszustatten. Kurze Haare, die etwas wirr vom Kopf abstanden. Kurze Arme und Beine. Und ein auffällig dicker Bauch.
Unverkennbar, das sollte sie selbst sein. Oder wenn man es sich genauer ansah, dann konnten die Zickzackstriche am Kopf auch genauso gut das Struwwelhaar eines kleinen, dicken Jungen sein. Mattis!
Wencke ließ die Zeichnung zu Boden segeln. Nur noch eine Minute. Sie musste den Bus erreichen. Sie musste zu Mattis.
Als die Tür ihres Zimmers klackend ins Schloss fiel und der Widerhall den menschenleeren Flur füllte, war Wencke schon beim Lift. Obwohl sie wusste, wie sinnlos es war, drückte sieimmer und immer wieder auf den Knopf, der den Fahrstuhl zu ihr bringen sollte. «Verdammt nochmal, komm endlich, du lahmer Kasten!»
Kurz überlegte sie, kehrtzumachen und durch das Treppenhaus nach unten zu gehen. Aber sie musste sich schonen. Und gleichzeitig musste sie alles daransetzen, schnell genug zu sein, um Mattis zu schützen, der vielleicht in Gefahr war. Warum nicht? Wenn es jemand auf Nina abgesehen hatte, warum sollte dann nicht auch ihr Sohn davon betroffen sein?
Es war jetzt nicht die richtige Zeit für Wehwehchen und Schonung, entschied Wencke, es war höchste Zeit zum Handeln.
Sie vernahm das herannahende Summen des Liftes. Die Beleuchtung des Knopfes erlosch, ein feines Rauschen kündigte das Öffnen der Fahrstuhltüren an. Sie zwängte sich durch den gerade geöffneten Spalt und hämmerte mit der flachen Hand auf die mit dem «E» beschriftete Taste. «Mach schon», fluchte Wencke.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass der Kleinbus – sollte er pünktlich sein – in wenigen Augenblicken Richtung Externsteinen abfahren würde. Doch die Türen schoben sich unendlich langsam auseinander und verharrten einen Augenblick, als erwarteten sie noch einen weiteren Fahrgast. Tatsächlich hörte Wencke schnelle Schritte über den Flur hallen, die sich unverkennbar dem Fahrstuhl näherten. Erneut drückte sie den Knopf. Endlich falteten sich die Metallelemente wieder zusammen, sodass sie den Flur nur noch durch einen kleinen Schlitz sehen konnte, gleich würde sich der Aufzug in Bewegung setzen. Wencke atmete erleichtert auf. Vielleicht erreichte sie doch noch rechtzeitig das Erdgeschoss, den Bus, vielleicht war sie früh genug bei Mattis, der auf sie wartete und sicher ständig Ausschau nach ihr hielt. Der leise Schmerz im Unterleib wallte
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