Die Wacholderteufel
Sie sind bunt und weich wie Gummibären. Ich hasse sie. Ich will schlafen. Es ist schon nach Mitternacht. Aber das Spiel dauert meistens bis drei Uhr. Und wenn ich mich nicht an die Regeln halte, gibt es Diskussionen, und dann dauert es meist noch viel länger.
Er kann das durchhalten. Er hat den Tag zum Schlafen. Und wenn er spielt, kennt er kein Ende. Er wälzt mich auf den Bauch und freut sich, wie vielseitig mein Körper ist. Ich bin eine tolle Frau. Er hat so ein Glück gehabt mit mir. Er sagt es. Dann wird er endlich müde. «Komm ins Bett, Schatz», sagt er. «Du musst morgen früh zur Arbeit, vergiss das nicht, du nimmersattes Etwas.»
Mein Wecker klingelt um sieben. Vier Stunden schlafen. Seit so vielen Jahren schon. Meine Porzellanknochen stehen auf. Ich arbeite. Bis um halb sechs. Um sechs muss das Essen auf dem Tisch stehen.
Mein Mann hat mich noch nie geschlagen.
Sie erwachte von seinem Rufen. Als sie nach oben schnellte, stieß sie sich den Kopf an einem rostigen Heizungsrohr, welches lose von der Wand abstand, an der sie sich angelehnt hatte. Obwohl sie merkte, dass sich Blut in ihrem Haar ausbreitete, konnte sie nicht darüber nachdenken, ob sie sich bei diesem Stoß ernsthaft verletzt hatte. Sie spürte nichts, es war egal, denn sie hatte seine Stimme gehört. War er hier, oder träumte sie? Ihr war schrecklich kalt in diesem dünnen, inzwischen feucht gewordenen Schlafanzug. Fast spürte sie ihreBeine und Arme nicht mehr, vielleicht wäre sie sogar im Schlaf erfroren, wenn sie diese Stimme nicht aufgeschreckt hätte. Sie dachte zunächst, es sei noch ein Traum. Doch sie hörte ihn wieder rufen. Sie erkannte, dass diese Schreie aus der Wirklichkeit stammten und sich voller Gewalt in ihren Traum geschlichen hatten. Er war wirklich hier. Er hatte sie gefunden. Das vertraute und verhasste Grollen hallte durch die Flure. Er rief ihren Namen. «Nina», rief er. Immer wieder. «Nina!»
Er hatte sie nie geschlagen. Doch er hatte oft zu ihr gesagt: Wenn du mich verlässt, werde ich dich umbringen. Ihr war immer klar gewesen, dass er keine leeren Drohungen machte.
34
An den Wänden zeichneten sich braune Maserungen ab, wie geschmacklose Tapeten überzogen Wasserränder den weiß getünchten Putz. Die Feuchtigkeit hatte sich über das ganze vierte Stockwerk ausgebreitet, es roch schimmelig. Ein Rohrbruch?
Je höher Wencke und Pelikan kamen, desto besser wurde die Luft. Im Erdgeschoss der Lippe-Klinik, wo sie durch ein zerbrochenes Fenster eingestiegen waren, hatte man kaum einatmen mögen, so sehr schien dort unten die Luft mit den Ausdünstungen des Zerfalls gesättigt zu sein.
Wencke hatte Angst. Das aggressive Rufen des Mannes neben ihr, der erneute harte Griff an ihrem Oberarm, das scheinbar endlose Irren durch die verwinkelten Gänge – dies alles war schlimm, kaum auszuhalten. Doch die Angst war eine andere. Der Schmerz in ihrem Unterleib hatte sich verändert. Die Krampfattacken kamen in immer kürzeren Abständen,nahmen sie mehr und mehr in Beschlag und machten jede Bewegung zur Qual. Trotzdem musste sie Pelikan folgen, als wäre sie mutig und stark, denn ihr war klar, er würde jede Schwäche nutzen, würde sie umso mehr quälen und vorantreiben.
Inzwischen glaubte sie nicht mehr so fest daran, dass sie Nina hier finden würden. Es war zu grauenvoll in diesem Betonklotz, so dunkel und leer. Nie im Leben würde sich eine Schwangere hierhin zurückziehen. Sie wäre sicher an einen wärmeren, bequemeren Ort gegangen. Es sei denn – und das schien Wencke gar nicht so unwahrscheinlich –, es sei denn, Nina Pelikan war auf der Flucht vor etwas so Schrecklichem, dass sie die klamme Kälte eines abbruchreifen Betonklotzes in Kauf nahm. Unter diesen Umständen hoffte Wencke geradezu, dass sie Nina nicht finden würden. Vielleicht hatte Nina aber auch das Brüllen ihres Mannes gehört und war rechtzeitig abgehauen. Auch wenn es für Wencke bedeutete, dass sie noch Stunden mit diesem Monster durch mögliche Verstecke würde ziehen müssen. Schlimmer wäre es, sie fänden Nina, ihre Flucht wäre gescheitert, Pelikan würde sie mit sich schleppen und Wencke wäre dafür verantwortlich. Wäre eine Verräterin.
Ob der Anruf bei Norbert Paulessen etwas gebracht hatte? Ob der Kollege sie verstanden und geschaltet hatte, sodass das von Pelikan geplante Unglück hatte verhindert werden können? Sie hoffte, dass es Mattis gut ging, ihrem kleinen Freund. Wenn sie schon drauf und dran war, seine Mutter
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