Die Wacholderteufel
ein Stück Geländer. Doch wenn er Ilja Vilhelm festhalten wollte, müsste er den Metallgriff loslassen. Und dann? «Halten Sie durch. Die Feuerwehr ist unterwegs …», röchelte er. Ein Blick in dieTiefe zeigte einige blau uniformierte Männer, die hektisch in ihre Funkgeräte sprachen, von weiter hinten näherte sich ein grellroter Wagen mit Blaulicht.
Endlich verebbte der Nebel. «Ich bin hier hinter dir, Paulessen, ich hab den Nebel abgestellt», erkannte er seinen Kollegen.
Und dann erst fiel Paulessen die Stille ringsherum auf. Kein Orchester mehr, kein Kreischen, kein Theater. Es war schrecklich still. Nur der sich nähernde Feuerwehrwagen war zu hören. Und sein Kollege: «Mach keinen Scheiß, Paulessen, den kriegst du nicht zu packen. Warte, ich komme rüber und halte dich fest.»
«Bring du erst die Kinder in Sicherheit», schrie Paulessen zurück.
In diesem Augenblick schabte der Fuß des Wacholderteufels über den Fels, Ilja Vilhelm war zusammengesackt. Ein kurzer Blick verriet Paulessen, dass der Wacholderteufel das Bewusstsein verloren zu haben schien. Wie in Zeitlupe kippte sein Oberkörper nach vorn. Paulessen ließ das Geländer los und machte einen nächsten Schritt auf den Psychologen zu. Freihändig balancierte er über den Stein. Er sah Vilhelm fallen. Ganz langsam. Als würde der Wacholderteufel nach unten gezogen werden, erst der Kopf, dann der Oberkörper, zuletzt die unbrauchbaren Beine. Bis nichts mehr von ihm an der Stelle stand, auf der er eben noch Halt gefunden hatte. Wie eine Schlange folgte das Sicherheitsseil dem Stürzenden. Zischelte über den Felsvorsprung, schlängelte sich in Windeseile in den Abgrund. Paulessen dachte nicht nach. Er trat auf das Seil. Eine Sekunde später fühlte er, dass das Seil zum Bersten gespannt war. Menschen begannen zu schreien. Paulessen bekam das Ende der Leine zu fassen und wand es sich um den Unterarm. Im selben Moment wurde er mit einer unglaublichen Heftigkeit zu Boden geworfen, sein Arm kugelte fast aus, an seinemKnöchel schnitt irgendetwas Scharfes in die Haut, und er hörte sich wie von fern aufjaulen vor Schmerz und Schrecken. Er wusste einen Moment nicht, wo er war, brauchte scheinbar Ewigkeiten, bis er erkannte, dass er auf dem Fels lag, den Fuß im Geländer verkeilt und Ilja Vilhelm an einem Seil haltend. Sonst nahm er nichts mehr wahr. Dachte nur: Durchhalten, einfach nur durchhalten! Dachte er das wirklich? Nach und nach wurde ihm klar, dass es Rufe waren. Rufe seines Kollegen, Rufe einiger Menschen dort unten. Sie feuerten ihn an. Und es verlieh ihm Kraft, es half.
Er durfte nicht aufgeben. Vielleicht nur ein paar Sekunden, vielleicht eine kleine Ewigkeit lang. Er war sich bewusst: Das Leben von Ilja Vilhelm hing an einem seidenen Faden, und dieser seidene Faden war er. Waren der Unterarm und die Hand, deren Innenfläche inzwischen so brannte, als würde sie über offenem Feuer gegrillt.
Es würde nicht mehr lang dauern, bis er nicht mehr könnte. Er war doch kein Held. Seine Finger erlahmten, er war nicht in der Lage, etwas dagegen tun, das Seil rutschte schmerzhaft durch seine Handflächen, scheuerte die Haut auf. Er konnte es nicht verhindern. Er war zu schwach. Er würde Vilhelm fallen lassen. Es tat so weh. Er heulte auf. Es war ja auch zum Heulen, so etwas hatte er in seinem Leben als Dorfpolizist noch nicht erlebt. Sein Griff löste sich von selbst. Paulessen hatte keine Gewalt mehr darüber. Sein Körper hatte sich verselbständigt. Das Seil fuhr in die Tiefe. Es war tatsächlich durchgeschnitten worden. Ilja Vilhelm würde fallen. Es gab niemanden mehr, der den Wacholderteufel hielt.
33
Endlich schlafen.
Schlafen. Schlafen.
Die Träume waren grauenvoll. Denn sie waren so realistisch. So echt, als wäre sie wieder dort, in Bremen, in der Wohnung, in dem Zimmer.
Doch zum Glück träumte sie nur. Meistens war sie sogar zu müde dazu. Dann sackte ihr Körper wie in ein Loch aus Watte, sie war gebettet in Ohnmacht, es kam ihr vor, als könnte sie Jahr um Jahr schlafen – wie Dornröschen. Sie wollte mehr als hundert Jahre schlafen. Absacken. Ausschalten.
Die Kälte, die auf einmal ins Zimmer gekommen war, machte ihr das Wegtreten einfach. Der weiße Schlafanzug war inzwischen grau geworden und die Strickjacke feucht, nichts bot den geringsten Schutz gegen das einschläfernde Frieren. Wie schön. Nur die Augen schließen und auf und davon. Es war eine Gnade. Bis auf die Träume.
Bis auf …
Ich komme nach
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