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Die Waechter der Teufelsbibel - Historischer Roman

Titel: Die Waechter der Teufelsbibel - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Duebell
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War das, was sie bisher für Realität gehalten hatte, gar der Traum?
    Sie sah sich erneut in dem baufälligen Haus auf der Prager Kleinseite: eine große, schlanke Frau in einem Kleid, das weniger wegen auffälliger Preziosen als wegen des schlichten, wertvollen Stoffes, aus dem es der Schneider angefertigt hatte, teuer war. Ihr Haar war zu einem Knoten gebunden, aus dem sich schon erste Strähnen gelöst hatten, als sie ihr Heim verlassen hatte. Cyprian, der sie besser kannte als jeder andere Mensch, pflegte zu sagen, dass Selbstbehauptung und Freiheitswille im Kopf anfingen; bei ihr, war sein Credo, fingen sie am Kopf an, nämlich bei ihrem Haar, das sich jeder anderen Frisur als einer lockeren, lockigen Mähne hartnäckig widersetzte. Mit dem Rest ihrer Person, so Cyprian, der es wissen musste, sah es in puncto Selbstbehauptung nicht viel anders aus. Agnes hatte sich vor langer Zeit gefunden, und wonach immer sie auf der Suche war, ihre eigene Mitte gehörte nicht dazu – sie befand sich bereits darin. Abgesehen davon gehörte sie zu der Art von weiblichen Wesen, die andere Frauen dazuveranlassten, ihren Begleitern einen Rippenstoß zu versetzen, weil diese ihr allzu auffällig Blicke zuwarfen, und die sich dessen lediglich halb bewusst war, weil in ihrem Herzen nur für einen Platz war: Cyprian, den Mann, der seit zwanzig Jahren an ihrer Seite war. Man hätte ihr Alter auf Anfang dreißig schätzen können. Sie war genau vierzig.
    Agnes presste sich an den Türstock und horchte nach draußen.
    »Mutter …«, flüsterte Alexandra. Agnes’ Tochter saß auf dem Bett, die Hände ineinander verkrampft, die Augen weit aufgerissen und leuchtend in der Dunkelheit. Die schwangere Frau unter den Decken stöhnte vor Furcht. Agnes verfluchte sich dafür, der Gefahr zum Trotz aufgebrochen zu sein, um nach der Schwangeren zu sehen; noch mehr verfluchte sie sich dafür, Alexandra mitgenommen zu haben. Sie hatte gedacht, dass es der Fünfzehnjährigen guttun würde, die behütete Welt ihres Heims zu verlassen und sie bei diesem Besuch zu begleiten. Er stellte Agnes’ Art und Weise dar, den Bedürftigen Almosen zu geben: mit tatkräftiger Hilfe, einem warmen Essen und praktischem Trost für ein Mädchen, das im selben Alter wie Alexandra bereits dem Tod im Kindbett oder einem Leben in Schande als Mutter eines unehelichen Kindes entgegenblickte. Und nun bestand die Gefahr, dass der Erfahrungsschatz ihrer Tochter darum erweitert werden würde, von den verrohten Passauer Landsknechten vergewaltigt und erschlagen zu werden. Agnes biss die Zähne zusammen, damit sie nicht ebenfalls vor Furcht zu stöhnen begann wie die Schwangere.
    Natürlich hatte sie wieder schlauer sein müssen als alle anderen. Natürlich hätte jemand, der weniger impulsiv war als sie, zuerst nachgedacht und die panikerfüllten Warnungen vor dem Heer der Landsknechte in diese Überlegungen einbezogen. Aber die Geburt war in ein oder zwei Wochen fällig, und das junge Ding, eine entfernte Verwandte ihrer Köchin,konnte jeden Trost gebrauchen. Aus ihrer eigenen Geschichte heraus empfand sie Achtung für eine werdende Mutter, die sich für das Kind entschieden hatte, obwohl sie vor dem Nichts stand und der Gang zu einer Engelmacherin einfacher gewesen wäre. Und so hatte Agnes es sich zur Aufgabe gemacht, alle zwei Tage zur Kleinseite hinüberzugehen, ein Fußmarsch von einer knappen halben Stunde, von der glänzenden, reichen Welt um den Goldenen Brunnen herum in die düstere Armut der Tagelöhner und Habenichtse. Sie brachte Essen, Getränke, abgelegte Kleider, half der Schwangeren, sich zu waschen, unterhielt sich mit ihr, besprach mögliche Namen für das Kind, weinte mit ihr und lachte mit ihr und hatte noch immer das Gefühl, nicht genug zu tun, um ihre eigene vermeintliche Schuld dem Schicksal gegenüber abzutragen, das sich in ihrem Fall als so gütig erwiesen hatte.
    Nun aber verfluchte sie sich ein drittes Mal dafür, Alexandra mit hineingezogen zu haben, ihr erstes Kind, die Tochter, die ihr in allem so ähnlich war und die stets, wie sehr sie Alexandras zwei jüngere Brüder auch liebte, einen besonderen Platz in ihrem Herzen einnehmen würde …
    … und überlegte gleichzeitig mit kalter Furcht, ob dies wohl der Zeitpunkt war, zu dem die Rechnung für zwanzig Jahre Glück fällig werden würde.
    »Mutter …«, flüsterte Alexandra nochmals.
    »Sch!«
    »Mutter, das Haus hat doch einen Ausgang zur rückwärtigen Gasse. Wenn wir anpacken,

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