Die Waechter von Marstrand
Waschschüssel. Ein bisschen kaltes Wasser war noch da. Sie wusch sich die Hände und besprengte ihr Gesicht. Ihre geröteten Augenlider waren geschwollen und das Wasser von ihren Händen so dreckig, dass ihr Gesicht ganz grau wurde. Die Situation war trostlos. Mauritz Widell hatte sie in der Hand, und Oskar war ertrunken. Draußen wurde es allmählich hell, aber die Morgendämmerung flößte ihr keine Hoffnung ein. Sie warf einen Blick aus dem Fenster und überlegte, ob sie sich hinunterstürzen sollte. Dank der Schieferplatten würde es mit etwas Glück schnell gehen. Kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, als ein lautes Geräusch sie zusammenzucken ließ. Großmutters Robbenfellkoffer. Er war von dem hohen Schrank gefallen und lag nun mitten im Zimmer. Als hätte Großmutter ihr etwas sagen wollen.
12
Sie hatte von ihrer Mutter und den Tieren auf dem Bremsegård geträumt. Schon wieder. Was hatte Vendela gesagt? Es gebe Unklarheiten im Kaufvertrag, und ein Stück Land habe gefehlt, als Vater den Hof verkaufte? Die ganze Sache klang höchst merkwürdig, aber andererseits kam Vater auf die sonderbarsten Ideen. Astrid zog das Raffrollo hoch und blickte hinaus. Der gestrige Sonnenschein war in Regen übergegangen. Gut fürs Getreide, dachte Astrid automatisch, bevor ihr wieder einfiel, dass sie für die Felder des Bremsegård nicht mehr verantwortlich war, sondern nur für einen kleinen Gemüsegarten hinter dem Haus.
Mutter würde sich im Himmel die Augen aus dem Kopf heulen, wenn sie wüsste, dass der Hof nicht nur von Vater verschleudert worden war, sondern nun vollständig aus den Händen der Familie gerissen zu werden drohte. Vielleicht waren es ihre Tränen, die nun auf Klöverö herabregneten. Mutter. Astrid erinnerte sich, wie Mutter krank geworden war und Astrid bei den Nachbarn übernachten musste. Am zweiten Abend wollte sie gerade zu Bett gehen, als sie abgeholt wurde.Astrid zwängte sich in ihre Stützstrümpfe, zog Hose und Hausschuhe an und ging die Treppe hinunter. Sie füllte den blauen Emaillekessel mit Wasser und stellte ihn grüblerisch auf den Herd. Sie war schon lange nicht mehr auf dem Dachboden des Schuppens gewesen. Das Erdgeschoss betrat sie andauernd, weil sie hier alle Garten- und Fischereigeräte aufbewahrte, aber wann sie zuletzt oben gewesen war, wusste sie gar nicht mehr. Sie machte den Herd wieder aus und zog sich stattdessen Schuhe und Jacke an. Kaffee konnte sie später noch trinken, und besonderen Appetit hatte sie auch nicht.
Der Schuppenschlüssel hing im Schrank. Langsam ging Astrid über den Hof. Wenn man älter war, dauerte es ein bisschen, bis der Körper wach wurde. Die Muskeln mussten erst warm werden, damit sie taten, was man wollte. Manchmal war das Aufstehen die Hölle, aber nachdem sie sich eine Weile bewegt hatte, ging es. Sie kam sich oft vor wie eine steife Schlange, die sich in Erwartung der wärmenden Sonnenstrahlen auf einen Felsen legte. Obwohl sie langsamer vorankam als früher, bewegte sich Astrid noch immer auf der ganzen Insel. Sie war stolz darauf, ihr eigenes Brennholz für den Winter zu hacken und sich mit Kartoffeln und Gemüse selbst versorgen zu können. Der Schlüssel drehte sich geschmeidig im Schloss. Sie ließ ihn stecken, weil er von außen auch als Klinke diente.
Die steile Dachbodentreppe befand sich ganz hinten. Sie war staubig und hatte kein Geländer. Vorsichtig stieg sie hinauf und drückte mit beiden Händen die Luke nach oben. Mit der Zeit gaben die knarrenden Scharniere den Widerstand auf. Sie kletterte das letzte Stück hinauf und sah sich um.
Seit wie vielen Jahren war sie nicht hier gewesen? Alle Kisten und Möbel waren mit einer Staubschicht bedeckt. Astrid strich mit dem Finger über ihr altes ausziehbaresKinderbett. Sie selbst hatte keine Kinder bekommen.
»Ich hatte ganz vergessen, dass hier oben so viele Sachen stehen«, murmelte sie. Alle Möbel waren mit dem Haus zwangsversteigert worden. Nachbarn und Neugierige aus der gesamten Gegend waren gekommen. Nicht unbedingt, um etwas zu kaufen, sondern um zu begaffen, wie der reiche Bremsegård Stück für Stück verscherbelt und in alle Himmelsrichtungen verstreut wurde. Eine von Mutters Hutschachteln hierhin, das Silberbesteck dorthin. Astrid hatte vom Waldrand aus die Menschen gesehen, die den ganzen Samstag heranströmten. Alles, was man von früheren Generationen geerbt hatte, Dinge, die mit Liebe und Sorgfalt ausgewählt worden waren und so einen Platz in diesem Haus gefunden
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