Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
sich alle Mühe, um zu horchen. Sein Gehör war jedoch nicht mehr das alte, er nahm nur seinen eigenen Puls und das gleichmäßige Plätschern des Bachlaufes wahr. Der Mensch dort hinten bewegte sich nun endlich in Richtung Waldrand, langsam, einige Male unsicher, als schleiche er in seinen eigenen Fußspuren zurück. Bald war er in Richtung Osten verschwunden.
Der Alte zögerte. Er begriff selbst nicht so recht, warum er sich nicht bemerkbar gemacht hatte. Er hatte Angst gehabt, das ging ihm zu seiner Überraschung jetzt auf, er hatte sich in der Dunkelheit verkrochen, um nicht gesehen zu werden, doch warum er das getan hatte, konnte er nicht so recht erklären. Wieder strengte er sein Gehör an, legte den Kopf schräg und hielt sich die eiskalte Hand hinters Ohr.
Es war still.
Er war jetzt hellwach. Fürchtete sich ein wenig, wollte nun aber unbedingt wissen, was passiert war, was diese Gestalt hier zu suchen gehabt hatte, mitten in einer Dezembernacht auf einem vereisten Waldsee in Nordmarka. Eine alte Neugier erwachte, ein längst unterdrücktes Gefühl, vergessen und verdrängt, da es ihm nur Ärger gemacht hatte.
Er würde nur einige Minuten brauchen, um den Weiher zu überqueren, der Weg am Ufer entlang würde vielleicht eine halbe Stunde dauern. Er dachte zurück an das milde Wetter, das noch im Oktober geherrscht hatte, und entschied sich trotzdem für den Landweg.
Er rang um Atem, als er die Stelle erreicht hatte. Das Asthma preßte ihm die Kehle zusammen. Vorsichtig folgte er den Fußspuren dieses anderen Menschen. Sie zeichneten sich fast schwarz vor der blauweißen, verschneiten Fläche ab. Wenn das Eis diesen Menschen getragen hatte, dann brauchte sicher auch er sich nicht zu fürchten. Außerdem hatte er es ja nicht weit.
Ein Loch.
Es war nicht groß, aber groß genug, um Fische herauszuziehen. Irgendwer war zum Eisfischen hier gewesen, mitten in der Nacht, bei klirrender Kälte.
Er lachte leise und schüttelte den Kopf über den Unverstand der Menschen.
Samstag, 21. Dezember
Hanne Wilhelmsen lag im Bett und starrte die Decke an. Die Hitze im Zimmer ließ die Luft schwer und stickig werden, und Hanne feuchtete ihren ausgedörrten Mund mit den Lippen an. Zum Glück hatte sie im Laufe der Nacht ihre Decke weggestrampelt. Trotzdem klebte Schweiß auf ihrer Haut. Mit steifen Bewegungen setzte sie sich im Bett auf und rückte ihr Kissen zurecht, ehe sie sich wieder zurücksinken ließ.
»Du hättest mir etwas von dem Fest zu Heiligabend sagen können«, sagte sie leise.
Nefis drehte sich ihr zu und gähnte.
»Meine Hanna, wenn ich dir von dem Fest erzählt hätte, wäre da nie etwas draus geworden. Du hättest nein, nein, nein gesagt, und dann hätten wir dagesessen. Du und ich und Marry.«
»Ja, und das wäre mir auch am liebsten gewesen.«
Nefis stöhnte und schlug sich vor die Stirn. Ihre schwarzen Haare klebten an ihrer Haut, und sie lächelte strahlend.
»Kleines Schönchen. Du bist komisch. Eigentlich willst du immer nur, daß wir zu dritt zusammen sind. Die ganze Zeit. Ich will echte Weihnachten! Jetzt, wo ich in einem Winterland feststecke, mit diesen vielen lustigen Weihnachtssitten, will ich sie auch alle haben! Jede Menge Dekoration und Kerzen und Masse, Masse Menschen am Tisch.«
»Viele«, sagte Hanne und wollte aufstehen. »Das heißt viele Menschen. Und du hättest fragen können. Außerdem wußte ich nicht, daß du das Gefühl hast, festzustecken.«
»Aber Hanna.«
Nefis streckte die Hand aus, um Hanne zu berühren, aber die war zu schnell. Sie lief ins Badezimmer.
Sie ließ sich Wasser über den Rücken strömen und lehnte die Stirn an die geflieste Wand. Sie drehte das Wasser langsam kälter. Noch kälter. Sie spürte, wie ihre Haut sich zusammenzog und wie ihr Kopf leichter wurde.
Nefis hatte recht. Nefis hatte immer recht. Meistens jedenfalls. Diese seltsame Familie in der Kruses gate würde ein Einsiedlerinnenleben führen, wenn sie Hanne ihren Willen ließe.
Dieser Gedanke entlockte ihr ein Lächeln.
»Hanna, du lächelst!«
Nefis setzte sich auf den Toilettendeckel aus Mahagoni mit Intarsienmuster im Inkastil; Edelholz und Metall kitzelten eiskalt an ihren nackten Oberschenkeln.
Hanne versuchte, ihr Lächeln zu unterdrücken.
»Ha, du lachst sogar«, rief Nefis und klatschte in die Hände. »Du freust dich über das Fest!«
»Überhaupt nicht«, wehrte Hanne ab und hielt ihr Gesicht unter den Strahl der Dusche.
Hanne freute sich. Sie ärgerte sich nicht
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