Die Wahrheit deiner Berührung (German Edition)
sie. »Am besten, du gehst erst einmal allein. Ich komme in einer Minute nach.«
Phin war sich nicht sicher, ob ihr Zögern der Sorge um ihn entsprang oder ob sie sich selbst zu schützen versuchte. Dann fiel ihm ein, dass es sich nicht schickte, wenn sie sich gemeinsam in einem Raum aufhielten, Punkt. Allem Anschein nach war das Hausmädchen nicht da. Und Laura hatte gesagt, dass ihre Mutter zum Markt gegangen war. Hatte Sheldrake sich denn nicht darum gekümmert, dass die beiden nach seinem Tod abgesichert waren? Phin beschloss, Gorman zu beauftragen, sich ein Bild über die finanzielle Situation der beiden Frauen zu machen. Ihnen in dieser Hinsicht unter die Arme zu greifen, war das Mindeste, das er tun konnte.
Er verneigte sich und ging allein den Flur entlang. Gerahmte Drucke hingen an den Wänden, darunter Aquarelle, die den Strand von Brighton und die Klippen von Dover zeigten – Souvenirs von den wenigen Familienurlauben. Sheldrake hatte sich bei ihm wegen seiner Abwesenheit entschuldigt. Hab dich vermisst, Junge. Tut mir leid, dass wir dich allein gelassen haben . Die Kreuzstichstickerei mit den Königin-Victoria-Rosen hatte Mrs Sheldrake an Ostern vor nunmehr fünfzehn Jahren beendet. In Sheldrakes Augen ein Werk hoher Kunst, wie er verkündet hatte. Phin hatte seine Verwunderung für sich behalten (Rosen? Drei Monate Arbeit für ein Blumenbild?) und ihm recht gegeben. Damals hätte er allem zugestimmt, was Sheldrake sagte.
Er stieß die Tür zum Arbeitszimmer auf, die sich mit dem unvermeidlichen Knarren öffnete. In all den Jahren war es Phin nicht einmal gelungen, dieses Zimmer auch nur eine Minute zu spät zu betreten, ohne erwischt zu werden.
Alles war unverändert. In den Regalen standen Sheldrakes Arbeitsgeräte – Sextanten und Kompasse, Teleskope und Lineale zum Zeichnen von Parallelen sowie ein Quecksilberhorizont, mit dem er Phin den Krümmungsgrad der Böden im Haus hatte berechnen lassen. In der Mitte des Zimmers standen sich zwei Schreibtische aneinandergeschoben gegenüber. Auf dem einen lagen sorgfältig gefaltete Landkarten und Bücher aufgestapelt, wobei Pierces Hauptwerk Elementary Treatise on Plane and Spherical Trigonometry einen exponierten Platz einnahm. Der alte Globus ruhte auf seinem Messinggestell, ein durch das Fenster einfallender Sonnenstrahl zeigte hell auf Russland.
Phin ging einige Schritte weit in das Zimmer. Die Oberfläche des Globus fühlte sich wächsern an. Sein Finger glitt über den Indischen Ozean. Er war in seinen antiquierten Umrissen zu sehen, die aus einer Zeit stammten, als die Briten noch nichts von Transvaal oder Belutschistan, dem Suezkanal oder Oberbirma wussten. Als er das letzte Mal auf diesen Globus geschaut hatte, waren auch ihm diese Orte fremd gewesen. Heiß, stickig, der Fluss gelb vor lauter Schlamm und so träge dahinfließend, dass es den Anschein hatte, als würde er knirschen. Er konnte noch immer nicht glauben, dass er bei der letzten Expedition nicht ums Leben gekommen war. Das Kopfgeld auf einen Engländer war so hoch, dass ein Einheimischer jahrelang sorglos davon hätte leben können.
Phin tippte mit der Fingerspitze einmal kurz auf den Ozean und ließ seinen Blick dann zu dem geordneteren der beiden Schreibtische gleiten. Ein Federhalter lag quer über einem Blatt Zeichenpapier, als hätte ihn jemand für einen Moment dort abgelegt. Er nahm ihn in die Hand. Eine Feder der Firma Brandauer. Was sonst? Das wahre Geheimnis einer Zeichnung ist die stählerne Feder, Phineas, und nicht die Hand, die sie führt .
Als Phin den Federhalter zurücklegte, beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Der Schreibtisch sah aus, als hätte Sheldrake bis eben dort gesessen und gezeichnet und würde gleich an seinen Arbeitsplatz zurückkehren.
Phin atmete tief durch und wich einen Schritt zurück. Ihm war, als zöge sich sein Hals zusammen. Die Generation seines Vaters hatte die Sehnsucht nach Vergangenem als Krankheit angesehen. Man hatte geglaubt, das unerfüllbare Verlangen ließe den Verstand allmählich verfallen, weil er sich nach einer Zeit sehnte, die niemals wiederkehrte. Er würde sich selbst zerstören, indem er seine Erinnerungen bis zum Wahnhaften ausschmückte. Phin erkannte eine gewisse Logik in dieser Überlegung. Dieses Arbeitszimmer fühlte sich wie eine Krankheit an. Der Geruch nach Farbe, Papier, Polierwachs und Tinte füllte seine Lungen und verwandelte sich zu Stein. Mehr noch als der Duft nach frisch gebackenem Brot, den er im
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