Die Wahrheit der letzten Stunde
schwarzes Sakko — das einzige in seinem Besitz mit Revers anstelle eines Stehkragens - und das obligatorische Batikhemd, aber er könnte ebenso gut nackt sein. Millionen Menschen hören ihm zu — Millionen! -, und das nach Jahren, in denen er sich vergeblich abgemüht hat, sich Gehör zu verschaffen. Er ruft sich immer wieder ins Gedächtnis, dass er dieses Interview ebenso Faith White verdankt wie seiner eigenen Kongregation. Was macht es schon, dass King ein katholisches Riesenarschloch von einem Professor ins Spiel gebracht hat, der alles widerlegt, was Solomon sagt? Immerhin ist es David mit Gottes Hilfe gelungen, Goliath zu besiegen.
»Rabbi«, fragt King unumwunden, »ist Faith White der Messias?«
»Nun, ganz sicher ist sie nicht der jüdische Messias«, entgegnet Rabbi Solomon und entspannt sich, jetzt, da er sich auf ihm vertrauten theologischen Terrain befindet. »Der Thora zufolge lautet ein Kriterium für einen jüdischen Messias, dass dieser einen jüdischen Staat gründet. Und nichts von dem, was Faith von Gott mitgeteilt bekommen hat, deutet auf ein derartiges Vorhaben hin.« Er schlägt die Beine übereinander. »Das Interessante an einem Messias ist, dass die Anforderungen, die Judaismus und Christentum an ihn stellen, sehr unterschiedlich sind. Unserem jüdischen Glauben nach wird der Messias sich erst blicken lassen, wenn es uns gelungen ist, die Welt von allem Übel zu befreien und für eine göttliche Wesenheit vorzubereiten. Im Christentum steht die Ankunft des Messias meines Wissens nach für das Anbrechen eines Zeitalters der Erlösung. Er bringt sie mit sich, Juden müssen sich das Erscheinen des Messias erst verdienen, während die Christen nur darauf zu warten brauchen.«
»Wenn ich an dieser Stelle widersprechen dürfte?«
Beide Männer wenden sich der Stimme zu, die von einem Fernsehmonitor über ihnen herrührt. »Bitte«, sagt King. »Vater Cullen Mulrooney, Theologieprofessor am Boston College. Was wollten Sie sagen, Vater?«
»Ich halte es für anmaßend, wenn ein Rabbi mir erzählen will, was Christen zu tun oder zu lassen haben.«
»Lassen Sie uns darüber sprechen, Vater«, meint Larry King und tippt mit einem Kugelschreiber auf den Schreibtisch. »Wie kommt es, dass die katholische Kirche sich mit den Behauptungen eines kleinen jüdischen Mädchens befasst?«
Mulrooney lächelt. »Das hängt damit zusammen, dass eine große Zahl von Katholiken sich von ihr angesprochen fühlt.«
»Und dass sie erst sieben Jahre alt ist, spielt dabei keine Rolle?«
»Nein. Die katholische Kirche hat schon Visionen noch jüngerer Kinder für authentisch erklärt. Im Übrigen bezeichnete man das früher als das Alter der Vernunft, von dem an ein Mensch reif genug war, moralisch für sein Handeln verantwortlich gemacht zu werden. Darum wird auch in diesem Alter die erste Beichte abgenommen.«
Larry King schürzt die Lippen. »Der Mutter zufolge hat dieses Mädchen keine religiöse Erziehung jedweder Art genossen. Lassen wir einen Anrufer zu Wort kommen.« Er drückt einen Knopf. »Hallo?«
»Hallo? Ich habe eine Frage an den Rabbi. Wenn sie kein jüdischer Messias ist, was ist sie dann?«
Rabbi Solomon lacht. »Ein außergewöhnlich spirituelles Mädchen, das möglicherweise eher als wir anderen in der Lage ist, sich Gott zu öffnen.«
Die Stimme eines weiteren Anrufers ertönt. »Wenn sie Jüdin ist, warum wurde sie dann mit den Wundmalen Christi gezeichnet?«
»Wenn ich diese Frage beantworten dürfte?«, mischt sich Vater Mulrooney ein. »Ich halte es für wichtig, dass wir uns vor Augen halten, dass der Bischof noch kein offizielles Statement hinsichtlich der angeblichen Stigmata abgegeben hat. Es könnte Jahre … Jahrzehnte … dauern, bis die Wunden vom Vatikan als Stigmata anerkannt werden.«
»Aber es ist dennoch eine gute Frage«, bemerkt Larry King. »Wir reden hier nicht von einer Karmeliterin, sondern von einem Kind, und dazu noch von einem, das nicht im christlichen Glauben erzogen wurde.« Er wendet sich wieder Rabbi Solomon zu. »Wie kann ein jüdisches Mädchen die Wundmale eines Erlösers aufweisen, an den sie nicht glaubt?«
»Faith White ist ein unbeschriebenes Blatt«, ergreift Vater Mulrooney wieder das Wort. »Wenn bei einem Mensch ohne religiöse Vorgeschichte, einem Nicht-Christen, die Wundmale Christi auftreten, darf man das wohl als Beweis dafür werten, dass Jesus der einzige wahre Herr über die Menschen ist.«
Rabbi Solomon lächelt. »Das sehe ich
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