Die Wahrheit der letzten Stunde
ich war still und habe an mich gehalten.
Wie eine Frau beim Gebären will ich nun schreien, will schnaufen und schnauben zumal.
Jesaja 42,14
8. November 1999
JESSICA WHITE RÜCKT eine blassgrüne Glasvase ein paar Zentimeter nach rechts, dass die lavendelfarbenen Tulpen mit den Köpfen nicken. Colin an ihrer Seite lehnt sich entspannt in die Kissen in verschiedenen Lilaabstufungen zurück. Ich bin irgendwie in einen Katalog geraten und finde nicht wieder hinaus, denkt Kenzie bei sich.
»Ms. Van der Hoven«, sagt Jessica zuvorkommend, »möchten Sie noch ein Glas Wasser?«
»Nein, vielen Dank. Und bitte nennen Sie mich doch Kenzie.« Sie lächelt das frischvermählte Ehepaar an. »Ich habe gehört, Sie beide bekommen ein Baby.« Bildet sie sich das nur ein, oder rückt Colin plötzlich ein ganz klein wenig von seiner Frau ab?
Jessica streicht sich mit einer Hand über den Bauch. »Im Mai ist es soweit.«
»Wir hoffen, das seine große Schwester bis zu diesem Ereignis bei uns ist«, fügt Colin hinzu.
Sie weiß genau, was er ihr zu verklickern versucht. »Ja. Vielleicht könnten Sie mir erklären, woher Ihr plötzliches Interesse am Sorgerecht für Ihre Tochter herrührt, Mr. White.«
»Ich habe das Sorgerecht für Faith immer gewollt«, antwortet er ruhig. »Ich musste nur erst ein paar Dinge regeln und mein Leben neu ordnen. Ich dachte mir, es wäre nicht klug, Faith so bald nach dem Schock der Scheidung aus ihrer gewohnten Umgebung herauszureißen.«
»Dann ging es Ihnen also nur um das Wohl Ihrer Tochter, als Sie bei der Scheidung darauf verzichtet haben, das Sorgerecht zu beantragen?«
Colin schenkt ihr ein charmantes Lächeln, und Kenzie schießt ein Gedanke durch den Kopf: Dieser Mann könnte Sand in der Wüste verkaufen. »Genau!« Er beugt sich vor, wobei er die Hand seiner Frau loslässt und die Hände vor sich faltet. »Hören Sie. Mir ist bewusst, dass es sich um eine unschöne Angelegenheit handelt, bei der ich nicht wie ein Heiliger dastehen werde. Ich habe an jenem Tag nicht damit gerechnet, dass Mariah mit Faith so früh heimkommen würde, und auch wenn das keine Entschuldigung ist, dürfte klar sein, dass es nicht nur ein… ein flüchtiges Abenteuer war. Ich liebe Jessica; ich habe sie, geheiratet. Die Probleme in meiner Beziehung mit Mariah hatten nicht das Geringste mit Faith zu tun. Ich bin ihr Vater, werde immer ihr Vater sein, und ich möchte, dass dieses Kind bekommt, was es verdient.«
Kenzie tippt mit ihrem Bleistift auf ihren Notizblock. »Und was stimmt nicht mit dem Zuhause, in dem sie derzeit lebt?«
Im ersten Moment scheint er verblüfft. »Sie waren doch dort! Ist es etwa normal für ein kleines Mädchen, von der Presse belagert und verfolgt zu werden, sobald es sich vor die Tür wagt? Ist es normal, dass sie denkt, sie würde mit Gott sprechen?«
»Soweit ich informiert bin, hat Ihre Frau einen Versuch unternommen, Faith von dem ganzen Medienrummel fortzubringen.«
»Hat sie Ihnen das erzählt?«, knurrt Colin. »Sie hat versucht, sich dem Zugriff des Gesetzes zu entziehen. Nur einen Tag, nachdem ich ihr gesagt habe, dass ich das Sorgerecht beantragen würde, ist sie von der Bildfläche verschwunden.«
Kenzie horcht auf. »Sie wusste davon?«
»Ich sagte >Du hörst von meinem Anwalt.< Und - Peng - war sie wie vom Erdboden verschluckt.«
Kenzie macht sich eine Notiz. Da sie sebst in einer Juristenfamilie aufgewachsen ist, ist ihr jemand, der versucht, sich dem Zugriff des Gesetzes zu entziehen, per se suspekt. »Aber Mariah ist doch zurückgekommen«, gibt sie zu bedenken.
»Weil ihre Anwältin ihr die Hölle heiß gemacht hat. Können Sie jetzt verstehen, warum ich Faith ihrem Einfluss entziehen möchte? Wenn sich im Laufe des Verfahrens abzeichnet, dass es schlecht für sie ausgehen könnte, wird Mariah ihre Siebensachen packen und wieder mit Faith untertauchen. Mariah ist nicht der Typ, der sich einem Kampf stellt; das ist wider ihre Natur. Tatsächlich war sie genau deswegen jahrelang in Therapie.«
»Sind Sie Befürworter von Psychotherapien?«
»Sicher«, entgegnet er. »Wenn sie notwendig sind.«
»Und doch behauptet Ihre Ex-Frau, dass Sie diese Möglichkeit nach ihrem Selbstmordversuch gar nicht erst in Betracht gezogen haben.«
Colin presst ärgerlich die Lippen zusammen. »Verzeihen Sie, Ms. Van der Hoven, aber Sie scheinen mir nicht objektiv zu sein.«
Kenzie hält seinem Blick stand. »Es ist mein Job, alles zu hinterfragen.«
Jessica
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