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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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unterbricht das Gespräch, indem sie unvermittelt aufsteht und sich räuspert. »Ich hole den Kuchen.«
    Sie blicken ihr beide nach, als sie den Raum verlässt und in der Küche verschwindet. »Glauben Sie, es hätte mir nichts ausgemacht, Mariah in Greenhaven einweisen zu lassen? Gott, sie war meine Frau. Ich habe sie geliebt. Aber sie war … sie war … Na ja, praktisch über Nacht hat sie sich in einen Menschen verwandelt, den ich nicht wiedererkannte. Ich wusste nicht, wie ich mit ihr reden oder mich um sie kümmern sollte. Also tat ich, was ich glaubte tun zu müssen, um ihr zu helfen. Und jetzt kommt es mir vor, als würde sich die Vergangenheit wiederholen. Meine kleine Tochter benimmt sich nicht mehr wie mein kleines Mädchen. Und ich kann es nicht ertragen, das mitanzusehen.«
    Kenzie hat schon vor langer Zeit gelernt, dass es manchmal das Beste ist, gar nichts zu sagen. Und so lehnt sie sich zurück und wartet, dass Colin White fortfährt.
    »Gleich nach Faith’ Geburt bin ich nachts mit ihr durch das Haus gewandert, wenn sie schrie. Sie war so winzig und dabei so perfekt, und manchmal hörte sie ganz plötzlich auf zu weinen und sah mich an, als würde sie mich schon ewig kennen.« Colin blickt auf seinen Schoß. »Ich liebe meine Tochter. Was immer geschieht, wie auch immer das Gericht entscheidet, das kann mir keiner nehmen.« Kenzie hat aufgehört, sich Notizen zu machen. »Haben Sie noch nie in Ihrem Leben einen Fehler gemacht, Ms. Van der Hoven?«, fragt er leise.
    Sie wendet den Blick ab und bemerkt eine große Kiste, die hinter dem Esszimmertisch versteckt ist. Anhand des Etiketts sieht sie, dass es sich um eine Plastikstaffelei handelt. Offensichtlich kein Geschenk für das Baby, das unterwegs ist - und doch ebenso offensichtlich neu. Colin folgt ihrem Blick und errötet. »Ich bin eben Optimist«, sagt er mit einem schüchternen Lächeln.
    Kenzie erkennt, dass sie — aus Sympathie für Mariah White - ein Monster erwartet hat. Aber dieser Mann hat einen guten Grund, einen Rechtsstreit auszufechten. Und der hat nichts mit Rachsucht oder Boshaftigkeit zu tun: Er hat einfach etwas gesehen, das ihm Angst gemacht hat, und fühlt sich berufen, zu handeln.
    Andererseits könnte es auch sein, dass Colin White ein begnadeter Schauspieler ist.
     
    9. November 1999
     
    Vater Rampini steht in einem geschmackvoll eingerichteten Büro der Diözesen-Kanzlei. Er hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt, starrt auf ein Bücherregal und fragt sich ganz nebenbei, warum Seine Exzellenz der Bischof von Manchester sechzehn Ausgaben der Biographie der heiligen Theresa, der »Kleinen Blume«, besitzt. Als die Tür aufgeht, dreht er sich abrupt um und wischt sich diskret den Schweiß von den Handflächen, ehe er Bischof Andrews zunickt. »Vater«, brummt der Bischof und lässt sich in einem weinroten Ledersessel nieder. »Exzellenz.«
    »Bitte.« Andrew bedeutet ihm, auf einem schlichteren Sessel Platz zu nehmen, und heftet den Blick auf die baumelnde Kette des Kreuzes, das der Bischof in die Tasche gesteckt hat.
    Rampini hat schon früher angebliche Visionen untersucht, um sich davon zu überzeugen, dass ihnen nichts anhaftete, das im Widerstreit zum katholischen Glauben stand. In jedem dieser Fälle, sogar den vielversprechenden, hat er empfohlen, sich in Geduld zu fassen und abzuwarten. Er war stets bemüht, ein voreiliges Urteil zu vermeiden, um sich ja nicht lächerlich zu machen.
    Und das ist auch der Grund, warum jetzt seine Hände zittern. Er steht nämlich kurz davor, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben, weil er nämlich glaubt, Faith White könnte tatsächlich Gott gesehen haben.
    Bischof Andrews nimmt seine Brille ab und putzt die Gläser, ehe er sie wieder aufsetzt. »Dem Rektor von Saint John’s zufolge sind Sie der angesehenste Theologe im ganzen Nordosten.«
    »Wenn Sie es sagen, Exzellenz.«
    »Ich möchte Ihnen im Namen der Diözese danken, dass Sie sich her bemüht haben.«
    »Aber das ist doch nicht der Rede wert«, entgegnet Rampini.
    Der Bischof nickt weise. »Ich habe nur ein paar Fragen an Sie, Vater.«
    »Bei allem Respekt, Exzellenz, aber ich habe meinen Bericht bereits vorgelegt.«
    »Ja, genau genommen sogar zwei. Eine erste Empfehlung und - wie haben Sie es noch gleich genannt? - eine aktualisierte Version. Wissen Sie, ehrlich gesagt ist mir nicht so ganz klar, wie ein Theologe — dazu noch der angesehenste Theologe im ganzen Nordosten - innerhalb von nur wenigen Stunden

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