Die Wahrheit der letzten Stunde
Schuhe von den Füßen und schiebt das Band in den Videorekorder. Nicht zum ersten Mal, seit sie als Privatdetektivin arbeitet, wundert sie sich über die Gedankenlosigkeit vieler Arbeitgeber. Ein bisschen Lob ab und an, eine Umsatzbeteiligung - Himmel, vielleicht nur ein freundlicher Gruß ab und an … das alles hätte Ian Fletchers Kameramann möglicherweise davon abgehalten, ihr eine Kopie der Aufnahmen von Millie Epsteins Belastungs-EKG für läppische zehn Riesen zu verkaufen.
Sie spult mit der Fernbedienung vor, da sie sich weder für den Herzrhythmus der Frau interessiert noch dafür, wie sie sich auf dem Ergometer abstrampelt. Dann beugt sie sich gespannt vor, die Fingerspitzen auf den Lippen, die sich langsam zu einem breiten Lächeln verziehen.
KAPITEL 13
Seid nüchtern und wachet. Euer Widersacher, der Teufel, streift umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge.
1. Petrusbrief 5,8
23. November 1999
DER KERL IST ein Arschloch«, erklärt Joan und legt ihren Aktenkoffer auf den Küchentisch. Weder meine Mutter noch ich selbst zucken mit der Wimper. Wir haben Joan schon früher in diesem Ton über Malcolm Metz schimpfen hören. Ich setze mich ihr gegenüber, während sie in irgendwelchen Unterlagen kramt. »Die gute Neuigkeit ist die, dass wir Metz in ein paar Wochen aus unserem Leben streichen können«, sage ich mit vorgetäuschter guter Laune.
Joan blickt überrascht auf. »Wer spricht denn hier von Metz?« Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und massiert sich die Schläfen. »Nein, heute hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, einer eidlichen Zeugenaussage von Ian Fletcher beizuwohnen. Der Typ ist mit zwanzig Minuten Verspätung erschienen, und dann wollte er nicht mehr sagen als seinen Namen und seine Adresse. Er muss den Satz >Ich berufe mich auf mein Aussagever weigerungsrecht< irgendwann in der Schule gelernt und seitdem darauf gewartet haben, ihn anzubringen.« Kopfschüttelnd reicht sie Mariah eine Liste. »Das Einzige, was mir die heutige Begegnung gebracht hat, ist die Gewissheit, dass das Kreuzverhör so angenehm wird wie Zähneziehen.«
Mariah nimmt das Papier entgegen und versucht, zu begreifen, was Joan da eben gesagt hat. Ian ein Zeuge von Malcolm Metz? Für Colin?
»Steht außer Fletcher noch jemand auf der Zeugenliste, über den Sie mir etwas erzählen können?«
Ich will antworten, aber mein Mund ist zu trocken, um mehr herauszubringen als ein überraschtes Pusten. Vage bin ich mir meiner Mutter bewusst, die mich aus zusammengekniffenen Augen mustert, sowie der Buchstaben, die auf dem Papier zu Namen verlaufen: Colin, Dr. Orlitz, Dr. DeSantis. »Mariah«, ruft Joan wie aus weiter Ferne. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Er hat immer wieder gesagt, er wird mir helfen. Er hat gesagt, er wird alles in seiner Macht Stehende tun, damit ich Faith behalten kann. Und jetzt hat er sich mit Malcolm Metz verbündet und als mieser Lügner entpuppt.
Was ist sonst noch gelogen?
Adrenalin pumpt durch meine Adern, als ich aufstehe und meinen Stuhl vom Tisch zurückschiebe. Joan und meine Mutter blicken mir nach, als ich die Küche verlasse, folgen mir hinaus in die Diele. Als ihnen klar wird, was ich vorhabe, greift Joan ein. »Mariah«, warnt sie eindringlich, »tun Sie jetzt nichts Unüberlegtes.«
Aber ich kann nicht mehr klar denken; ich will gar nicht klar denken. Es ist mir egal, wer mich sieht, als ich getrieben von Wut und Verletztheit beinahe im Laufschritt den Garten durchquere. Ich nehme nicht einmal wahr, dass die Medien wie elektrisiert aufmerken, als ich wildentschlossen den Winnebago ansteuere.
Ich mache mir nicht einmal die Mühe anzuklopfen. Schweratmend stehe ich auf der Schwelle und blicke auf Ian und drei seiner Angestellten, die um einen mit Papieren übersäten Tisch sitzen. Eine Sekunde sprechen Ians Augen zu mir: Überraschung, Freude, Verwirrung und Argwohn lösen sich in ihnen ab. »Miss White«, sagt er in seinem charmanten Südstaatenakzent. »Welch nette Überraschung.« Er wendet sich an die anderen Anwesenden und bittet diese, sie einen Moment allein zu lassen. Sie werfen mir neugierige Blicke zu, als sie nacheinander das Wohnmobil verlassen.
Sobald die Tür sich hinter ihnen geschlossen hat, kommt Ian um den Tisch herum und packt mich bei den Schultern. »Was ist los? Ist Faith etwas passiert?«
»Noch nicht«, entgegne ich knapp.
Angesichts meines Zorns weicht er einen Schritt zurück. »Irgendetwas muss aber passiert
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