Die Wahrheit der letzten Stunde

Münchhausen-Syndrom leiden, haben allesamt eine schwierige Kindheit gehabt, was bei Mariah nicht der Fall ist. Aber was mich persönlich am meisten an dieser Münchhausen-Diagnose stört, ist einfach, dass es diverse andere Diagnosen gibt, die auf den vorliegenden Fall ebenso anwendbar wären.«
    Joan heuchelt Überraschung. »Tatsächlich? Welche denn zum Beispiel?«
    »Zuerst einmal eine psychosomatische Störung. Darunter versteht man, vereinfacht ausgedrückt, wenn sich bei einem Patienten emotionaler Stress körperlich äußert. Nehmen Sie beispielsweise ein Kind, das vor jeder Klausur schwere Magenkrämpfe bekommt vor Angst. Die Schmerzen sind real, aber es gibt keine physische Ursache für die Symptome. Denken Sie an Freuds Hysteriker. Sie sind die Urgroßmütter der heutigen Patienten mit psychosomatischen Störungen.«
    Er hebt die Hände und demonstriert eine Art Tabelle. »Es ist hilfreich, wenn man sich diese Störungen anhand einer Art Tabelle vorstellt«, erklärt der Psychiater. »Am einen Ende steht die Vortäuschung einer Krankheit, etwas, das wir alle schon das eine oder andere Mal getan haben; man behauptet, die Grippe zu haben, um beispielsweise nicht als Geschworener verpflichtet zu werden - man schützt irgendwelche Symptome vor, um damit etwas ganz Bestimmtes zu erreichen. Am anderen Ende der Kurve stehen Patienten mit psychosomatischen Beschwerden. Diese Patienten erzeugen unwillentlich Symptome, die so aussehen und sich anfühlen wie eine echte Erkrankung - ohne dass der Patient weiß, dass er selbst die Beschwerden erzeugt, geschweige denn, warum. Irgendwo dazwischen liegt das Münchhausen-Syndrom, bei dem Symptome bewusst vorgetäuscht werden können… aber ohne spezifischen Grund.«
    »Der Unterschied liegt also in der Absicht, Doktor.«
    »Genau. Ansonsten ähneln diese beiden Störungen sich nach außen hin stark. Wie beim Münchhausen-Syndrom wird der Arzt auch bei einer psychosomatischen Erkrankung vergeblich nach einer organischen Ursache für die Symptome suchen. Weder Kernspin noch Ultraschall oder sonstige umfassende Tests bringen irgendein Ergebnis, weil das vorhandene Problem einfach nicht mit der Physiologie übereinstimmt. Der Unterschied besteht darin, dass im Falle einer psychosomatischen Störung die Symptome durch Stressfaktoren ausgelöst werden. Beim Münchhausen-Syndrom hingegen ist Mami der Auslöser. Bei einer psychosomatischen Erkrankung sind die Symptome real, während sie beim Münchhausen-Syndrom vorgetäuscht sind. Oft muss man, um eine Diagnose zu stellen, die Hintergründe der Erkrankung näher beleuchten, sich die beteiligten Personen ansehen und was ihnen das Ganze bringt.«
    »Dann ist es Teil der Diagnose, zu bestimmen, wem daran gelegen ist, Aufmerksamkeit zu erregen - Mutter oder Kind.«
    »Genau.«
    »Inwieweit passen Faith’ Symptome zu einer psychosomatischen Störung, Doktor?«
    »Zum einen ist ihr Problem nicht organischer Natur. Sie blutet an den Händen, aber es deutet nichts auf ein Trauma hin, keine inneren Gewebeschäden - ziemlich schwer, eine solche Wunde vorzutäuschen beziehungsweise künstlich herbeizuführen. Sie hat möglicherweise Halluzinationen, aber sie ist nicht psychotisch. Und es wäre nachvollziehbar, dass die Krankheit aus einer Stresssituation heraus entstanden ist, weil sie im Unterbewusstsein glaubt, dass sie durch Kranksein den Stressfaktor beseitigen kann.«
    »Käme als Stressfaktor eine Scheidung infrage?«
    Fitzgerald lächelt. »Sie haben eine rasche Auffassungsgabe, Ms. Standish. Für ein Kind wäre es nicht ungewöhnlich zu denken: >Wenn ich krank werde, bleiben meine Eltern zusammen und kümmern sich um mich.< Und macht das Kind sich selber krank, macht es auf sich aufmerksam, ohne sich dessen bewusst zu sein. Da ich Faith bisher nicht gesprochen habe, ist die Annahme, ihr Geist würde ihren Körper krank machen, in der Hoffnung, ihre kaputte Familie wiederherzustellen, nur hypothetisch. Aber sehen Sie selbst: Es funktioniert. Ihre Eltern sind heute beide hier, oder?«
    »Wenn dem so wäre, hätte Mrs. White dann irgendetwas mit den Krankheitssymptomen ihrer Tochter zu tun?«
    »O nein. Das alles geschieht auf psychogener Ebene, wird allein von Faith’ Unterbewusstsein gesteuert.«
    Joan legt eine kurze Pause ein, um diese Worte auf alle Anwesenden wirken zu lassen. Dann fragt sie: »Wie würden Sie vorgehen, um festzustellen, ob Faith’ Beschwerden von ihrer Mutter hervorgerufen wurden oder von Faith’