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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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ausreichend Zeit gehabt, über seinen Fall nachzudenken. Ihr – nicht besonders originelles – Fazit lautete, dass er sich seit seiner Geburt immer zu viel zumutete. Er war allein aufgewachsen, hatte sich allein durchgebissen und es allein zu etwas gebracht. Das, was wie eine starke Persönlichkeit wirkte, war in Wirklichkeit nichts anderes als eine ununterbrochene Ausbeutung seiner eigenen Kraft. Jetzt war die Quelle erschöpft, und außer beängstigenden Rückständen wie Angst im Dunkeln, Furcht vor dem Tod und innerer Einsamkeit – die Passan selbst für überwunden hielt – war nichts übrig geblieben.
    Zu genau dem gleichen Ergebnis kamen die Psychiater der Klinik Sainte-Anne, in die Passan im Januar 1999 als Notfall eingeliefert wurde. Er war am Ende. Ganz unten angekommen. Zweifellos hatte irgendein Vorfall den schlimmen Absturz ausgelöst. Um ihn zu identifizieren und um gegen weitere Vorkommnisse dieser Art gewappnet zu sein, musste Passan zu sich selbst finden. Nur eine Therapie konnte ihm dabei helfen.
    Antidepressiva. Angstlöser. Psychoanalyse. Nach und nach hatte Passan die Antikörper seiner Seele reaktiviert und entgiftet. Was seinen Job anging, so konnte er sein Gesicht wahren. Niemand erfuhr je von seiner wirklichen Erkrankung. Im Privatleben waren Sandrine und Passan als gute Freunde auseinandergegangen. Später hatte Passan dann den Grund für seine Wiedergeburt gefunden: Naoko.
    Endlich erreichte Sandrine den Parkplatz des Krankenhauses. Sie betrat das Gebäude. Im Aufzug stellte sie fest, wie durchgeschwitzt sie war. Und dann dieser Geruch … Mist, sie hatte ihr Parfüm vergessen. Doch dann zuckte sie die Schultern. Das alles war längst Vergangenheit.
    Der Flur war überhitzt. Es roch nach Äther und Urin. Sandrines Besuche in Sainte-Anne hatten sie endgültig von ihrer Krankenhaus-Phobie geheilt. Inzwischen hätte sie problemlos selbst in einem Leichenschauhaus übernachten können.
    Sie klopfte an Passans Tür. Keine Antwort. Mit der Hand auf der Klinke spähte sie ins Zimmer.
    »Hallo!«
    Er war kaum zu erkennen. Ein Teil seiner Haare war verbrannt, sein Schädel verpflastert, und im Gesicht wechselte sich grünliche Gaze mit weißen Bandagen ab. Sie verzichtete auf einen Begrüßungskuss und setzte sich neben das Bett, ohne den Mantel abzulegen. Sofort empfand sie das Schweigen als belastend. Wenn man Leute zu gut kennt, weiß man oft nichts mit ihnen zu reden.
    »Brauchst du vielleicht irgendetwas?«, erkundigte sie sich schließlich.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Tut dir etwas weh?«
    »Geht so.«
    »Bleibst du lang hier im Krankenhaus?«
    »Nur noch einen Tag. Danach nehmen sie mir die Bandagen ab. Hoffe ich zumindest.«
    Seine Stimme schien so verbrannt zu sein wie sein Gesicht.
    »Ich muss dauernd an Naoko denken«, flüsterte er.
    »Na prima«, versuchte sie zu scherzen.
    »Gestern, ehe das alles hier passiert ist, haben wir uns in unserem Garten getroffen.«
    »Deinem berühmten Zen-Garten?«
    Ihr Tonfall blieb ironisch, doch Passan schien es nicht zu bemerken. Es war, als spräche er mit sich selbst.
    »Ich fand sie wirklich schön.«
    »Na, das ist vielleicht mal eine Erkenntnis!«
    Er wandte ihr den Kopf zu.
    »Ich meine …« Die Bandagen erschwerten ihm das Atmen. »Es war wie ein altes Stück im Radio. Etwas, das du immer wieder gehört hast, bis du es plötzlich leid warst. Und dann, eines Tages, sitzt du im Auto und kriegst wieder eine Gänsehaut.«
    »Und jetzt?«, erkundigte sich Sandrine irritiert. »Lasst ihr euch nicht mehr scheiden?«
    Langsam bewegte Passan seine Hand. Sandrine bereute ihren scharfen Tonfall.
    »Im Gegenteil«, murmelte er. »Aber es war einfach schön, noch einmal die Frau wiederzusehen, die ich einmal geliebt habe, und nicht die Fremde, die seit Jahren mein Leben teilt.«
    Wieder wurde es still im Zimmer.
    »Wenn du nach Japan fährst«, fuhr Passan fort, »wirst du ständig zwischen zwei Extremen hin- und hergerissen. Manchmal glaubst du, du bist auf dem Mars, und dann wieder – nur Sekunden später – schenkt dir ein einziger Satz das Gefühl großer Nähe.«
    »Worauf willst du hinaus?«
    »Ich habe diese Schwankungen zehn Jahre lang mit Naoko erlebt.«
    »Aber gerade das macht ihren Charme aus.«
    Er brummte etwas vor sich hin, ehe seine Aussprache deutlicher wurde.
    »Es ist mindestens zwei Jahre her, dass ich sie zum letzten Mal geküsst habe. Es kam mir vor, als hätte ich meine Hand geküsst.«
    Sandrine beugte sich zu ihm

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