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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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hinunter und redete ihm gut zu wie ein Pfarrer im Beichtstuhl.
    »Warum wühlst du all diese Dinge jetzt auf? Ganz ehrlich – es gibt Wichtigeres. Du solltest dich ausruhen und …«
    Sie brach ab. Passans Gesicht hatte sich plötzlich völlig entspannt. Sein Kinn ruhte auf seiner Brust. Er war eingeschlafen. Sandrine erschrak, denn er sah aus wie ein Toter. Sie griff nach ihrer Handtasche, stand auf und blieb eine Weile neben dem Bett stehen. Sie empfand weder Mitleid noch Zuneigung.
    Eins aber war ihr jetzt klar geworden: Passan bildete kein Hindernis mehr für ihren Plan.

59
    »Papa hat uns den Fernseher aber ins Zimmer gestellt!«
    »Papa macht, was er für richtig hält, aber wenn ich da bin, steht der Fernseher im Wohnzimmer. Und im Schlafzimmer wird geschlafen.«
    Naoko fand nicht die Kraft, mit ihren Söhnen Japanisch zu sprechen. Sie deckte Hiroki zu. Der Kleine lächelte schon wieder.
    Shinji tauchte an der Badezimmertür auf.
    »Geht es Papa besser?«
    »Es geht ihm prima.«
    »Gehen wir ihn morgen besuchen?«
    »Nein, er kommt her. Er wird morgen aus dem Krankenhaus entlassen.«
    Shinji nickte mit der Zahnbürste im Mund. Naoko folgte ihm mit Blicken – eine kleine Gestalt im blauen Frotteeschlafanzug, die sich vor dem mit Fröschen und Seerosen bedruckten Duschvorhang die Zähne putzte. Immer wieder empfand sie das gleiche Entzücken. Manchmal konnte sie es gar nicht fassen, dass ihr wider alle Erwartung etwas so Erstaunliches gelungen war. Ein wahres Wunder.
    »Komm jetzt schlafen!«, rief sie, ihre Gefühle unterdrückend.
    Shinji hüpfte ins Bett. Naoko überhäufte ihn mit Küssen. Sie hatte sich mit den Kindern geeinigt, dass sie heute nicht die übliche Gutenachtgeschichte vorgelesen bekamen, sondern stattdessen fünfzehn Minuten fernsehen durften. Eigentlich war Naoko gegen das Fernsehen. Auch für Videospiele und Internet hatte sie nichts übrig. Sie fand, dass diese Medien die Fantasie verkümmern ließen. Heute Abend jedoch fühlte sie sich erschöpft und nicht in der Lage, jedem der beiden eine eigene Geschichte vorzulesen.
    Sie knipste die Deckenbeleuchtung aus.
    »Lass bitte die Tür offen!«
    »Und meine Lampe an!«
    Insgeheim war Naoko den Kindern dankbar, dass sie sich genau wie an jedem anderen Abend verhielten.
    »Alles klar!«
    Sie warf ihnen noch eine Kusshand zu, ehe sie in ihr eigenes Zimmer ging. Diego war schon wieder verschwunden. In den letzten Tagen hatte er sich nicht gerade als besonders nützlich erwiesen. Sie ließ sich ein Bad ein. Tausend Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. War es möglich, dass es sich bei dem Eindringling nicht um Guillard handelte? Dass es jemand war, den sie alle sehr gut kannten? Der Duft nach feuchten Zedern tat ihr gut. Er war wie eine Liebkosung.
    Sie steckte ihr Haar zu einem Knoten auf, setzte sich auf den Schemel und rubbelte ihre Haut energisch mit einem tenogui , einem kleinen weißen Handtuch, und normalem Duschgel. Dabei benutzte sie kaum Wasser. Trockenreinigung. Als sie fertig war, duschte sie sich ab. Erst nachdem sie sorgfältig gereinigt und gepeelt war, tauchte sie in den Wasserdampf und das glühend heiße Badewasser ein. Fünfundvierzig Grad – genau die richtige Temperatur.
    Immer wenn sie in Tokio war, begleitete sie ihre Mutter zu den heißen Quellen der Umgebung, den Onsen. Nach dem Bad hüllten sie sich in leichte Yukatas und kosteten nach Tang schmeckende, große Austern und Tempura aus ausgebackenen rosigen Crevetten, die wie knusprige Seesterne aussahen. Dabei dachte sie manchmal, dass Japaner eigentlich auch nur eine Art Meeressäuger waren.
    Sie schloss die Augen. Dieses Bad war wie ein Gebet.
    Plötzlich hörte sie Geräusche. Ihr Herz setzte kurz aus. Trotz des heißen Bades bekam sie kalte Füße. Es gelang ihr, aus der Wanne zu steigen, ohne dass man etwas hörte. Sie nahm sich nicht die Zeit, sich abzutrocknen, sondern streifte nur hastig ein T-Shirt und eine Jeans über.
    Wieder hörte sie etwas. Wie kleine eilige Schläge. Kaum vernehmlich. Naoko konnte es nicht fassen. Die Bedrohung war wieder da.
    Und dieses Mal schien es kein Einzeltäter zu sein. Sie huschte in ihr Zimmer und sah sich um. Sie brauchte eine Waffe. Etwas, womit sie sich und ihre Kinder verteidigen konnte. In der Nachttischschublade lag der Kaiken.
    Die Geräusche näherten sich.
    Sie kamen von der Treppe. Hier konnte sie den Eindringlingen den Weg abschneiden. Auf keinen Fall durften sie das Kinderzimmer erreichen. Im Geiste sah sie

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