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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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wie eine zweite Haut saßen. Sie peppten ihre Schuluniformen so weit auf, wie es eben noch möglich war, ohne ganz und gar aus der Norm zu fallen. Die blauen Röcke und weißen Söckchen blieben. Sie schrieben Tagebuch, masturbierten gemeinsam und tranken Sake. Sogar ziemlich viel. Ayumi hatte einen wirklich guten Zug.
    Und dann passierte die Katastrophe. Mit siebzehn hatte Naoko noch immer keine Monatsregel. Ihre Mutter suchte schließlich mit ihr einen Arzt auf, bei dem sie allerlei Untersuchungen über sich ergehen lassen musste. Heraus kam, dass das junge Mädchen an einer angeborenen Fehlbildung litt: Sie verfügte zwar über Eierstöcke und Eileiter, hatte jedoch keinen Uterus. Häufig haben Patientinnen mit dem Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom auch keine Vagina, das aber war bei Naoko nicht der Fall. Und daher hatte auch niemand die Anomalie bemerkt.
    Das junge Mädchen hatte als Erstes Ayumi angerufen. Die Freundinnen verfügten über ein ausgeklügeltes, auf Geräuschen basierendes System, einer Art Morsealphabet, um auf Entfernung kommunizieren zu können. Ayumi hatte sich sofort mit dem Fall beschäftigt. Ihr Vater war Gynäkologe, und die Familienbibliothek strotzte von einschlägigen Werken. Ayumi stellte fest, dass Naoko auch ohne Uterus eine Familie gründen konnte, denn sie war schließlich fruchtbar. Sie musste sich nur eine Leihmutter besorgen.
    Die beiden Mädchen sprachen sich ab. Ayumi schwor Naoko, dass sie ihre Kinder austragen würde. Naoko weinte vor Dankbarkeit und schloss ihre Freundin fest in die Arme, aber tief im Innern hatte sie längst beschlossen, niemals Mutter zu werden. Sie tendierte eher zur Geschäftsfrau, zur Kriegerin, zur Eroberin. Alles andere war ihr egal.
    1995 traf sie dann den Fotografen in der U-Bahn. Shootings folgten, später Castings und schließlich Verträge. Naoko wurde Model, was Ayumi ganz und gar nicht gefiel. Sie fand, dass die Mode ein Job für Dummchen war. Naoko stimmte ihr da sogar zu, doch ihre ersten Jobs brachten ihr viel Geld und damit Unabhängigkeit.
    Durch ihre Arbeit entfernten sie sich voneinander. Naokos Status veränderte sich vollkommen. Von der unscheinbaren Freundin wurde sie zu einer oft fotografierten, begehrenswerten Frau. Sie brauchte ihre aufmüpfige Komplizin nicht mehr, um Männer in ihren Bann zu ziehen. Schon im folgenden Jahr verloren sich die Freundinnen aus den Augen, was bei Naoko zu einer Art dumpfen Erleichterung führte. Im Grunde hatte sie sich durch Ayumis stumme Einflussnahme immer häufiger belastet gefühlt. Manchmal hatte sie ihr sogar ein wenig Angst eingejagt.
    Naoko begann, weite Reisen zu unternehmen. Mailand. Paris. New York. Und dann traf sie Passan.
    Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie zogen zusammen und heirateten. Zur Hochzeit hatte sie einige Freundinnen aus Japan eingeladen, nicht aber Ayumi. Jahre vergingen. Je größer der Abstand wurde, desto negativer kam ihr die Verbindung zu Ayumi vor. Fast wie ein Fluch.
    Doch sie täuschte sich. Der Fluch war ihr Gebrechen.
    Naoko musste feststellen, dass es in Frankreich zur Liebe gehörte, Kinder zu bekommen. Passan hätte am liebsten eine ganze Fußballmannschaft gehabt. Er träumte davon, den Osten und den Westen zu vereinen. Wie immer wirkte er gleichzeitig verstiegen, naiv und rührend – gerade so, wie sie ihn liebte.
    Und so hatte sie in ihrem kleinen bockigen Japanerinnenkopf den schlechtesten aller Entschlüsse gefasst – nämlich, ihm nicht die Wahrheit zu sagen. Eine Frau, die kein Kind austragen kann, ist keine wirkliche Frau. Sie wollte lügen bis zum bitteren Ende. Irgendwann flog sie nach Japan zurück und traf sich mit Ayumi. Die stumme Freundin war inzwischen fünfundzwanzig Jahre alt, studierte Gynäkologie und kannte das Problem in allen Einzelheiten. Wäre Naoko gewitzter gewesen, hätte sie begriffen, dass Ayumi sie bereits erwartete.
    Die angehende Frauenärztin kannte nicht nur die Techniken, sondern auch das internationale Recht. Nur wenige Länder lassen Leihmutterschaft zu. Sie entschieden sich für Kalifornien. Naoko musste sich Sperma von ihrem Ehemann beschaffen und es einfrieren. Ayumi erklärte ihr ganz genau, wie sie vorzugehen hatte. Später würden sie sich in Los Angeles zur Entnahme der Eizellen und zur IVF treffen. Mit der Verpflanzung von zwei befruchteten Eizellen standen die Chancen für eine Schwangerschaft nicht schlecht. Ayumi würde unter Naokos Namen zu jeder Untersuchung und jeder Vorsorge gehen und auch unter

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