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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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wachsamen Augen ihres Vaters, der überzeugt war, von einer Samurai-Linie abzustammen.
    Weil er es wünschte, aber auch weil sie anders sein wollte – ihre Generation legte keinen großen Wert mehr auf die Vergangenheit –, hatte sie sich während all dieser Jahre mit der Kultur ihres Landes, seinen Traditionen und seiner Poesie beschäftigt. Im Geiste hatte sie in früheren Jahrhunderten gelebt. In einer wilden, herrlichen und mitleidlosen Zeit. In einer Zeit, in der Geishas ihren Kopf zum Schlafen auf Lackbänkchen legten, um ihre aufwendigen Turmfrisuren nicht zu zerstören. In einer Zeit, in der man im Frühling Kirschbäume entwurzelte, um sie in den Höfen der Kurtisanen wieder einzupflanzen. In einer noch gar nicht so fernen Zeit, als sich besiegte Soldaten nach ihrer Rückkehr fragen lassen mussten, wieso sie noch lebten, obwohl ihr Befehlshaber gefallen war.
    Mit achtzehn hatte sie schließlich all diesen Dingen den Rücken gekehrt. Den Kampfschwertern, den Traditionen und auch ihrem Vater. Nicht weil sie sich auflehnen wollte, sondern weil sie den Feind besiegt glaubte.
    Sie fühlte sich frei und selbstständig. Und diesen Sieg verdankte sie einer einzigen Person.
    Ihrem Schatten, ihrem Alter Ego, ihrer Freundin. Einem Engel namens Ayumi.

77
    Wie alle kleinen Mädchen ihres Alters hatte Naoko ihre Kindheit ganz unten im sozialen Gefüge verbracht. Ihre Eltern, ihre Lehrer, jeder noch so geringe alte Mensch und jedes männliche Wesen – selbst ein männlicher Säugling – waren ihr sozial überlegen.
    Tatsächlich wurde ihr nie wirklich klar, ob es überhaupt ein Wesen gab, das sich unter ihr befand.
    Ihr Betragen gründete sich auf ihrem gesellschaftlichen Rang und bestand aus Pflichten und Unterwerfung. Sie durfte sich nur sehr verhalten äußern und wuchs innerhalb eines unentwirrbaren Netzes aus Regeln, Zwängen und Verpflichtungen auf. Sie sprach nicht, sie entschuldigte sich. Sie wurde nicht größer, sie wich zurück.
    Bis ihr eines Tages Ayumi begegnete.
    Dieses junge Mädchen kümmerte sich nicht um irgendwelche Hierarchien, sondern ignorierte einfach alles, was mit sozialer Rangordnung zu tun hatte. Und sie pfiff auf Sitte und Anstand.
    Ayumi war stumm. Nicht taub, sondern nur stumm. Dieses Handicap jedoch verhalf ihr zu einer außergewöhnlichen Macht. Selbst in Japan geht man großmütig mit Unruhestiftern um, wenn sie behindert sind. Außerdem verlieh ihr Schweigen ihrem Aufbegehren eine besondere Kraft. Ihre Wut war unterschwellig, erdhaft und – fürchterlich.
    Ayumi sagte zwar nichts, machte aber einen betäubenden Lärm.
    Wie Naoko stammte auch sie aus einer gutbürgerlichen Familie. Die Lebenswege der Mädchen waren von Anfang an vorgezeichnet. Sie hatten einen nützlichen Beruf zu erlernen – möglichst im Bereich Recht, Medizin oder Finanzen. Mit dem ersten Kind jedoch würden sie aufhören zu arbeiten und sich ganz ihrer Nachkommenschaft widmen. Natürlich wurde erwartet, dass sie sich in eine der »Schulen für gute Ehefrauen« einschrieben, wo man sie die Kunst des richtigen Tischdeckens, alle Regeln des Protokolls, die Herstellung von Blumengestecken, Gartengestaltung und die Teezeremonie lehrte. Seit dem Ende der 1980er-Jahre kamen solche Kurse wieder in Mode, nachdem man sie zuvor eine Zeit lang vernachlässigt hatte.
    Was die Ehe anging, so gab es mehrere Möglichkeiten. Falls die Eltern sich für die klassische Variante entschieden, würden die jungen Frauen eine Omiai, eine arrangierte Ehe, eingehen. Es war auch möglich, eine Nakodo zu Hilfe zu rufen, eine Nachbarin oder Freundin der Familie, die einen interessanten und interessierten jungen Mann kannte und die beiden Parteien in Kontakt brachte. Und dann gab es noch Kennenlern-Clubs und Heiratsvermittlungen in sehr unterschiedlichen Qualitäten: kostenpflichtige und kostenlose Agenturen, Institute, die eine Vorauswahl trafen, und solche, an die sich jedermann wenden konnte.
    Weder Naoko noch Ayumi hatten mit solchen Gebräuchen viel am Hut. Sie lachten gern über eine in Japan wohlbekannte Anekdote: Eine junge Ehefrau, die ihren Mann nur ein einziges Mal vor der Hochzeit getroffen und dabei die ganze Zeit züchtig zu Boden geblickt hatte, wandte sich am Hochzeitstag dem falschen Mann zu. Sie hatten andere Zukunftspläne. Sie wollten die Welt erobern, autonom bleiben, die soziale Leiter erklimmen und ihre Herkunft hinter sich lassen. Sie hatten keine Lust, sich den Ansichten der Familie und den Interessen des Clans

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