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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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zu fügen. Sie hatten auch keine Ambitionen, irgendwann als Heimchen am Herd zu verkümmern. Ihnen schwebte ein vernünftiges Studium und ein guter Job vor – und dann nichts wie weg in eine moderne Zukunft.
    Die Situation stellte sich für die beiden heranwachsenden Mädchen nicht unbedingt gleich dar. Naoko wurde von der väterlichen Autorität schier erdrückt und würde sich frühestens nach einem Vorzeige-Studium emanzipieren können. Ayumi hingegen lebte allein bei ihrem Vater und hatte erheblich mehr Freiheiten. Der Vater war Witwer und hatte nie daran gedacht, sich wieder zu verheiraten. Er widmete sein Leben ganz und gar seiner stummen Tochter. Ihre Beziehung war sehr eng und in gewisser Weise geheimnisvoll.
    Ayumi war insgesamt rebellischer und hatte Naoko in dieser Hinsicht so gut wie alles beigebracht. Zunächst lehrte sie sie die Gebärdensprache, damit sie schneller miteinander kommunizieren konnten. Anschließend erklärte sie der Freundin, dass die wahre Revolte nicht darin bestand, auf den Druck eines Gegners zu reagieren, sondern darin, den Gegner ganz einfach zu übersehen. Sich so zu verhalten, als existiere er gar nicht. Nur so würde man frei und konnte seine eigenen Wünsche entdecken.
    Die beiden jungen Mädchen hatten sich im Hyoho Niten-Ichi-Ryu kennengelernt, einer Kenjutsu-Schule, welche die Kampfkunst des legendären Samurai Miyamoto Musashi aus dem 17. Jahrhundert lehrte. Die Übungshalle befand sich auf der Insel Kyushu. Naoko und Ayumi übten regelmäßig mit einigen anderen Schülern in Tokio, fuhren aber auch häufig zu ihrem Lehrmeister auf die Insel. Und manchmal nahmen sie an Meisterkursen auf der kleinen, vor Nagasaki gelegenen Insel Utajima teil.
    Unter Ayumis Einfluss hatte Naoko allmählich aufgehört, den Niten-Ichi-Ryu zu hassen, zu dem ihr Vater sie geschickt hatte. Sie begann die Vorzüge der an Musashi angelehnten Kampfkunst zu erkennen, die ihre besonderen Regeln besitzt. Man muss keine bestimmte Kleidung tragen. Jeder kann kommen, wann er es für richtig hält. Die Form des Kampfes unterscheidet sich stark von der Härte und dem Pomp anderer Kriegskünste. Ihr Lehrmeister besaß nicht einmal ein richtiges Schwert: Ihm genügte ein alter Bokken aus Holz, um den »Weg des Atems« durchzuführen.
    Naoko bewunderte den alten Mann, den Erben des größten Samurai aller Zeiten, der auf der Straße mit seiner Baseballkappe und seinem ausgeleierten Trainingsanzug wie ein ganz normaler Bürger aussah. Sie erinnerte sich, dass seine Konzentration und seine Gesten gegen Ende seines Lebens so präzise wurden wie nie zuvor und dass seine Lippen vor einem Angriff stumme Worte zu formen schienen. Lange hatte sie sich gefragt, was er aussprechen mochte, bis sie eines Tages entdeckte, dass der alte Mann lediglich sein Gebiss zurechtrückte. Dieses Detail hatte ihr endlich das Wichtigste klargemacht: Musashis Kampfkunst lehrte Ehrlichkeit. Sie führte zu einem Selbstfindungsprozess, dessen Ziel es war, sich selbst in seiner wahren Gestalt zu akzeptieren.
    Ayumi hatte diese Absicht begriffen, ehe Naoko so weit war. Sie erklärte der Freundin, dass das Schwert ihnen nicht dazu diente, stark zu sein, sondern frei zu werden.
    Ayumi war nicht schön. Sie hatte die schmalen Augen einer Mongolin und das runde Gesicht einer Chinesin. Sie erinnerte an Otafuku, eine pausbäckige Göttin, die für Fruchtbarkeit stand. Welche Ironie … Hinzu kam, dass sie einen Pony trug, der sie wie einen schmollenden Pudel aussehen ließ. Sie wirkte wenig feminin, hatte ein barsches Benehmen, hielt sich niemals gerade und marschierte mit gesenktem Kopf verbissen vorwärts.
    Und doch war sie diejenige, die gefiel. Die Jungen ihres Alters waren Bohnenstangen mit orangefarbenen Haaren, die sich kaum für Mädchen und noch weniger für Sex interessierten und ihr Leben nur durch den Filter von Videospielen, Mode und Drogen wahrnahmen. Sie waren selbstzufrieden, völlig passiv und hielten sich für originell. Ayumi stieß sie vor den Kopf, und die »Sojas« ließen es sich gefallen. Sie verströmte eine Sinnlichkeit und eine Verwegenheit, die diese Jungen gleichzeitig anzog und erschreckte.
    Die beiden Freundinnen trieben sich in Shibuya, Omotesando und Harajuku herum. Sie aßen Okonomiyaki, mit allem Möglichen gefüllte Fladen, die vor ihren Augen zubereitet wurden. Sie kümmerten sich um ihre Tamagotchi, ihre kleinen virtuellen Haustiere. Sie packten ihre Hard-Rock-Café-T-Shirts in die Waschmaschine, bis sie

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