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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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einer Höhe von etwa vierzigtausend Fuß. Bis zum Start hatte Naoko kaum zu atmen gewagt. Sie wusste, dass Passan an diesem Morgen ins Krankenhaus kommen und ihr Verschwinden bemerken würde. Ihr war auch klar, dass er sich sofort mit Fifi in Verbindung setzen und nachfragen würde, ob sie die Kinder mitgenommen hatte. Anschließend würde er natürlich am Rad drehen, sämtliche Flüge in Richtung Japan stoppen lassen und sie durch die Flughafenpolizei nötigenfalls gewaltsam aus dem Flugzeug holen lassen.
    Obwohl es sich um seine eigene Frau handelte. Oder gerade deshalb?
    Aber dank eines Wunders, das sie sich kaum erklären konnte, war es ihr gelungen, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Die Maschinerie war wohl nicht schnell genug angesprungen.
    Im Zweiten Weltkrieg zogen japanische Soldaten mit einer um den Hals gehängten Dose in die Schlacht. Das Behältnis war dazu gedacht, ihre Asche aufzunehmen, falls sie im Kampf fielen. Naoko fühlte sich wie einer dieser Soldaten. Sie war an der Front gefallen und kehrte mit der Asche ihrer Träume, ihrer Pläne und ihres Glücks zurück in ihre Heimat.
    Passan war sie vielleicht entkommen, aber vor sich selbst konnte sie nicht fliehen. Ihr Leben lang hatte sie sich bemüht, ihre Wurzeln zu verleugnen. Ihr Land. Ihren Vater. Ihre Unvollkommenheit. Ihr Leben lang war sie am Meer entlanggelaufen, damit die Wellen ihre Spuren auslöschten – doch jetzt war es damit vorbei.
    Sie wurde mit Gewalt zu ihren Ursprüngen zurückgezerrt.
    Seit sie nach Frankreich gezogen war, betrachtete sie sich als freie und unabhängige Weltbürgerin. Doch sie hatte sich geirrt. Obwohl sie im selbst gewählten Exil lebte und sich in ihrem Geschmack und ihren Vorstellungen dem Westen zugewandt hatte, war sie tief in ihrem Innern Japanerin geblieben. Zum Teufel mit der Metapher vom Bonsai und dem Wachstum in der Schale! Seit Jahren schon wuchs und entfaltete sie sich frei, doch der Rahmen war immer noch da. Er befand sich unter der Rinde des Baumes, in ihrem Fleisch, in ihrem Blut.
    Ein katholisch erzogenes französisches Mädchen wird sich immer an den Tag ihrer Erstkommunion erinnern. Eine Stunde Langeweile, Weihrauchdüfte, helle Kerzen und der nichtssagende Geschmack der Hostie. Naoko hingegen erinnerte sich des Talkums auf ihren Schultern, als man der Siebenjährigen für die Zeremonie des Shichi-go-san zum zweiten Mal einen Kimono anlegte – beim ersten Mal war sie drei Jahre alt gewesen. Sie wusste, dass Tanka-Gedichte aus einunddreißig Silben im Rhythmus 5–7–5–7–7 bestehen müssen. Und sie hatte nie vergessen, dass man Bambussprossen im Mai erntete, wie sie es jedes Jahr mit ihren Eltern und ihrem Bruder im heimischen Gemüsegarten zu tun pflegte. Sie hatte gelernt, dass man, bevor man Besuch empfing, den Teegarten gießen musste, damit die frischen Düfte die Gäste willkommen hießen. Jede Geste und jede Aufmerksamkeit ihrer Eltern hatte in ihrem Herzen eine nicht einlösbare Schuld eingegraben – das On. Selbst ihre spontansten Gedanken schienen davon infiziert zu sein. Wenn sie in Paris aus dem Haus gegangen war, hatte sie sich manchmal bei dem Gedanken ertappt, dass ziemlich viele Gaijin in den Straßen unterwegs waren …
    Ganz gleich, was sie tat – es waren die Silben der alten Poesie, die den Rhythmus ihres Blutes bestimmten. Der Gedanke an Wasser, das erwachte, sobald man an der Tür klingelte, und an eine Schuld, die ihr das Herz abdrückte, wenn sie an ihre Eltern dachte.
    Ehe sie nach Europa übersiedelt war, hatte sie sich durchaus für ihre Kultur begeistert. Passan hätte gelacht – oder geweint? –, wenn er gewusst hätte, dass sie bereits vor ihrem fünfzehnten Lebensjahr mehrmals Die Geschichte vom Prinzen Genji gelesen hatte – ein mehr als zweitausend Seiten starkes, herausragendes Werk der japanischen Kultur, ein Roman, der von einer Hofdame am Kaiserhof in der Heian-Zeit im 11. Jahrhundert verfasst worden war. Es hätte ihn überrascht zu erfahren, dass sie im Rahmen eines Kurses in Kunstgeschichte eine Abhandlung über Yamanako Sadao geschrieben hatte, einen Regisseur, von dem er vermutlich nicht einmal den Namen kannte und der mit nur dreißig Jahren in der Mandschurei im Kampf gefallen war.
    Sicher wäre er auch sehr verblüfft gewesen, wenn jemand ihm mitgeteilt hätte, dass sie eine wahre Expertin im Kenjutsu war. Von ihrem elften Lebensjahr bis zur Volljährigkeit hatte sie die »Kunst des Schwertes« praktiziert, und zwar unter den

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