Die Wahrheit des Blutes
dem Kreuz zu leiern. Das Büro ist übrigens im Rathaus von Nanterre, keinen Kilometer von hier entfernt.«
»Ich weiß.«
Er ließ den Zettel mit dem Namen in die Tasche gleiten und bedankte sich mit einem Kopfnicken bei Fifi. Der junge Mann verschwand. Passan schloss die Tür und hob das Telefon ab.
Ein Mistkerl, den er unter Druck setzen musste. Ein Deal mit einem Pädophilen, um an die Akte eines mutmaßlichen Mörders zu kommen. Die Herkunft des Monsters in greifbarer Nähe. Vielleicht fand sich ja etwas, womit man ihn überführen, anklagen und in den Knast bringen konnte.
Das waren gute Nachrichten. Allerdings nur für einen Bullen.
24
Beamtensolidarität.
Diese Karte hatte Passan bei Nicolas Vernant ausgespielt. Er hatte ihn in seinem Büro angerufen, sich vorgestellt und ihm alles vor den Latz geknallt: die Überwachung im Internet, den geplanten Einsatz am nächsten Freitag, seinen Namen auf der Liste. Er behauptete, er wolle Vernant das Schlimmste ersparen. Seine Festnahme verhindern. Einen Skandal bei den französischen Behörden vermeiden.
Vernant hatte protestiert, aber Passan hatte wie zufällig den Namen Sadko fallen lassen, ehe er sagte: »Lieber nicht am Telefon.« Sie hatten sich nach Feierabend um sechs Uhr in einer Kneipe verabredet, die Passan gut kannte und die gleich hinter dem pyramidenförmigen Rathaus von Nanterre lag. Sie hieß Chris’ Belle . Vernant war keine Zeit zum Antworten geblieben, denn Passan hatte bereits aufgelegt.
Den Rest des Tages hatte er die Akten durchforstet. Allerdings nicht für statistische Zwecke, sondern um herauszufinden, wer von den von ihm eingebuchteten Kandidaten in letzter Zeit entlassen worden war. Per Telefon, Internet und Aktenstudium hatte er die jeweiligen Prozesse und Unterlagen über Berufungen überprüft, ebenso wie vorzeitige Entlassungen, Aufenthaltsorte und Alibis seiner möglichen Feinde. Er hatte Kontakt zu Kollegen, Spitzeln und alten Bekannten aufgenommen, um sich über Leute zu erkundigen, die ihm vielleicht böse waren. Nach vierzehn Jahren bei der Polizei ergab sich da eine stattliche Anzahl.
Aber Konkretes hatte er nicht gefunden. Das stundenlange Staubschlucken hatte nicht zu einer ernst zu nehmenden Liste verdächtiger Personen geführt, sondern lediglich hässliche Erinnerungen in ihm wachgerufen.
Was sein Haus anging, so hatte er nur erreichen können, dass die zuständige Wache in Suresnes ab und zu eine Streife vorbeischickte. Immerhin besser als gar nichts. Er hatte weder Anzeige erstatten noch irgendetwas unterschreiben müssen. Die Polizisten taten ihm den Gefallen aus Kollegialität. Bisher waren weder Naoko noch die Kinder nach Hause gekommen. Für die Überwachung am Abend hatte Passan sich etwas einfallen lassen.
Halb sechs. Passan befand sich auf dem Weg zum Treffpunkt und fuhr die Avenue Joliot-Curie in Nanterre hinauf. Vor dem Rathaus, das an eine Maya-Pyramide erinnerte, parkte er in der Hochgarage und überquerte die Rue du 8 Mai 1945 gleich gegenüber. Hier kannte er sich bestens aus, denn diesen Weg hatte er früher immer genommen, wenn er die Schule schwänzte.
Jahre später war er noch einmal hier gewesen, nachdem Richard Durn bei seinem Amoklauf am 27. März 2002 acht Ratsmitglieder erschossen und neunzehn weitere verletzt hatte. Am Tatort hatte er sich gefragt, ob er mit dem Amokläufer in derselben Klasse gewesen war. Sie waren beide Jahrgang 1968 und hatten mit Sicherheit die gleichen Stühle in den gleichen Klassenzimmern des Lycée Joliot-Curie direkt gegenüber dem Rathaus gedrückt.
Ein Glück, dass er selbst dem Irrsinn und einer kriminellen Karriere entkommen war!
Das Chris’ Belle hatte sich nicht verändert. Es sah aus wie eine Grotte aus Plexiglas, die sich unter ein Stockwerk aus geriffeltem Beton duckte. Passan glaubte sich zu erinnern, dass der Name aus der Zusammenfassung der Vornamen der beiden Kinder des Wirts entstanden war: Christian und Isabelle.
Er betrat die Brasserie. Auch innen war noch alles wie früher. Nachgemachtes Holz, nachgemachtes Leder, nachgemachter Marmor. Selbst das trübe Licht wirkte irgendwie nachgemacht.
Seinen Kandidaten, der sich in einer Nische verkrochen hatte, erkannte er sofort. Der Mann war dürr wie eine Hopfenstange, hatte einen spitzen Schädel und hielt sich sehr gerade hinter seinem Glas Bier. Passan wurde dafür bezahlt, sich niemals von Äußerlichkeiten beeinflussen zu lassen, doch dieser Kerl passte tatsächlich zu dem, was man ihm
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