Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
etwas sagen.«
    Wieder lächelte sie. Passan musste an einen von eisiger Strömung und strahlenden Sommern glatt polierten Bachkiesel denken. Sie zog ein Päckchen Tabak aus der Tasche. Samson. Den Geruch nach sonnenwarmem Heu hatte Passan nie vergessen.
    »Patrick war zwei Jahre bei uns«, begann Monique, nachdem sie sich eine Zigarette gedreht und angezündet hatte. »Seit 1984, wenn ich mich recht erinnere. Er war nicht glücklich. Er konnte sich nicht einfügen.«
    »Lag es an seiner Anomalie?«
    »Ach, davon weißt du?«
    »Es steht in seiner Akte«, antwortete er ausweichend.
    Sie inhalierte zwei Züge, ehe sie fortfuhr.
    »Während seiner Zeit hier wurde er operiert. Er war fast zwei Monate im Krankenhaus.«
    »Und was genau wurde operiert?«
    »Das hat niemand je erfahren. Die Ärzte waren ausgesprochen diskret.«
    Passan stellte sich eine Kastration mit dem Skalpell vor und Eierstöcke, die mit der Kneifzange herausgerissen wurden.
    »Half ihm denn nie jemand bei seiner Toilette?«
    »Er war damals etwa zwölf und wollte um keinen Preis, dass man ihm zusah.«
    »Aber er war schon ein Junge?«
    Monique machte eine ungewisse Handbewegung.
    »Sagen wir mal, es war das Erziehungsgeschlecht.«
    »Das was?«
    »Ein schreckliches Wort. Es bedeutet, dass man sich bei seiner Geburt entscheiden musste. Entschieden haben die Ärzte, die Behörden und die Erzieher. Wir mussten uns der einmal getroffenen Entscheidung fügen.«
    »Und was glaubst du? Zu welcher Seite tendierte er?«
    »Er gab sich als Junge und stellte sich gegen alles und jedes. Er trieb sehr viel Sport, und zwar immer allein. Er wurde auch mit Testosteron behandelt. Seine Muskeln entwickelten sich, aber …«
    »Aber?«
    »In gewisser Weise blieb er weiblich. Zum Beispiel was seine Bewegungen, seine Stimme und sein Verhalten anging. Die anderen Jungs machten sich über ihn lustig und nannten ihn ›Schwuli‹.«
    »Wie war er? Ich meine im ganz normalen Alltag?«
    »Wild. Aggressiv. Er hat ein paarmal die Mensa auseinandergenommen. Die Krisen traten fast immer nach den Injektionen ein. Die anderen machten ihm das Leben zur Hölle. Er hatte keinen einzigen Freund. Niemand, der ihm zur Seite stand. Am besten ging es ihm, wenn man ihn vergaß.«
    »Konntet ihr ihn nicht schützen?«
    »Es ist unmöglich, die Kinder rund um die Uhr zu überwachen. Und einem Prügelknaben gönnt man keine Atempause.«
    »Kannst du dich an Einzelheiten erinnern?«
    »Ich wurde einmal Zeugin einer Szene, die ich am liebsten vergessen würde.«
    »Erzähle. Ich bin gegen so etwas immun.«
    »Sie haben ihm im Hof aufgelauert, ihm Hose und Unterhose ausgezogen und ihn geschlagen. Ich hatte die größte Mühe, sie zu bremsen.«
    Man hatte Guillard »an den Pranger« gestellt. Ein Klassiker. Auch für Passan war dies trotz vieler schrecklicher Erfahrungen die schlimmste Erinnerung seines Lebens geblieben.
    »Egal«, meinte Monique. »Er hat das inzwischen sicher längst vergessen. Die Zeit heilt viele Wunden.«
    »Bist du da ganz sicher?«
    »Ehrlich gesagt passierte ihm so etwas immer wieder.«
    Passan ging nicht weiter darauf ein. Kinder im Heim sind nicht schlechter oder besser als andere, aber ihre Verlassenheit, ihre Einsamkeit und ihre Traumata verstärken ihre Grausamkeit. Als würden sie bereits in der Schule beginnen, sich am Leben zu rächen.
    »Schließlich«, fuhr Monique fort, »einigten sich die Verantwortlichen, dass es für den Jungen besser wäre, ihn irgendwo im Süden unterzubringen. Wir waren alle erleichtert, denn zum Schluss wurde er gemeingefährlich.«
    »Inwiefern?«
    »Es war ihm gelungen, beim Zahnarzt eine Kürette zu stehlen. Eines Tages versuchte er einem anderen Jungen das Auge auszustechen. Ein anderes Mal hat er Feuer in einem der Schlafsäle gelegt.«
    Schon damals hatte Guillard also dieses Faible für Flammen. Allerdings genügte diese Erkenntnis nicht, um ihm die Scheiterhaufen im 9–3 zur Last zu legen.
    »Man könnte denken, ein solches Kind sei anlehnungsbedürftig«, fuhr Monique fort, während sie die ausgedrückte Kippe in die Tasche steckte. »Man hält es für ein unschuldiges Opfer seiner grausamen Kameraden. Aber Patrick hatte den Teufel im Leib. Er quälte das Geflügel in unserem Hühnerhof. Er war selbst jemand, der Schwächeren das Leben zur Hölle machte. Tief in seinem Innern war ein unergründliches Übel verborgen. Er interessierte sich für nichts und tat nie etwas für die Schule. Das ganze Kind war eine personifizierte

Weitere Kostenlose Bücher