Die Wahrheit des Blutes
Kinder mit dem Frühstück und dem hastigen Aufbruch zur Schule. Daher konnte es sie eigentlich nicht wundern, dass Passan keine Zeit für einen Rückruf gehabt hatte.
»Ist wirklich alles in Ordnung?«, hakte sie noch einmal nach.
»Klar, wenn ich es doch sage. Aber ich muss Schluss machen, sonst komme ich zu spät.«
Er legte auf. Verwirrt betrachtete Naoko ihr Telefon. Sie machte sich Vorwürfe, weil sie ihn so mit Fragen bestürmt hatte, obwohl doch gerade sie größten Wert auf streng getrennte Bereiche legte. Doch in dieser Situation war das eigentlich kein Wunder.
Naoko wühlte in der Tasche, die sie eilig am Vortag gepackt hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Passans Stimme hatte nicht aufrichtig geklungen. Es mochte paradox für einen Polizisten sein, aber Passan konnte nicht lügen.
Verärgert entschied sie sich für ein hellblaues Kleid. Der Stoff war ein wenig zerknittert, doch als Nomadin würde sie sich wohl an so etwas gewöhnen müssen.
Naoko hatte sich ein Zimmer in einem Hotel namens Madrid genommen, das in der gleichnamigen Avenue nicht weit von La Défense entfernt lag. Nach einer beruhigenden SMS von Passan war sie zwar zu Bett gegangen, konnte jedoch nicht einschlafen. Also stand sie wieder auf, nahm eine Schlaftablette und legte sich erneut hin, als müsse sie eine ungeliebte Pflicht erfüllen. Ein paar Stunden hatte sie vor sich hingedöst.
Im Gegensatz zu Passan litt Naoko niemals unter Albträumen. Noch nicht einmal unter konfusen oder beunruhigenden Träumen. Sie träumte lediglich harmlose Dinge. Von Ampeln, die niemals auf Grün schalteten, oder dass sie Gebäck einkaufte und plötzlich nur Fisch in ihrer Tasche vorfand. Hausfrauenträume eben. Die letzte Nacht hatte da keine Ausnahme gebildet.
Der Albtraum kam erst, als sie aufwachte. Sie musste an ihre Kinder denken. An den gehäuteten Affen im Kühlschrank. An die Bedrohung, die über ihrem Heim lag.
Neun Uhr. In einer halben Stunde fand das erste Meeting statt. Naoko betrachtete sich im Badezimmerspiegel. Ihr Make-up wirkte nervös und streng wie eine fiebrige Schrift. Aber damit mussten sich ihre Kunden abfinden. Angesichts der Zahlen, die sie ihnen präsentieren würde, würde das vermutlich ihre geringste Sorge sein.
Sie ließ den Aufzug links liegen und stöckelte mit klappernden Absätzen die Treppe hinunter. Die ganze Nacht hindurch war ihr Argwohn gegenüber Passan wie ein Leitmotiv immer wieder zurückgekehrt. Manchmal erschien ihr die Vorstellung geradezu absurd, dann wiederum hielt sie sich vor Augen, dass man einen Menschen nie ganz und gar kannte. So viele Anzeichen wiesen darauf hin, dass Passan im Lauf der Jahre immer weiter in Gewalt, Unausgeglichenheit und möglicherweise sogar in eine psychische Störung abgedriftet war. Seine Wutanfälle. Die Liebe zu den Kindern, die ihn nur zeitweilig, aber dann gleich exzessiv übermannte. Die Streitigkeiten mit ihr, wenn seine Klagen wie Eiter aus ihm hervorquollen – manchmal war es, als reinige er eine tief sitzende Wunde. Sein sardonisches Lachen, wenn er fernsah. Seine vulgäre Ausdrucksweise, wenn er mit Kollegen telefonierte.
In solchen Momenten holte die Wirklichkeit sie wieder ein. Sie lebte mit einem Mann, der andere Menschen getötet hatte. Die Hände, die ihre Kinder trugen und sie selbst streichelten, hatten Knochen gebrochen, den Abzug einer Waffe gedrückt und Kontakt mit Tod und Laster gehabt.
Selbst seine Leidenschaft für Japan war zu einer tödlichen Besessenheit geworden. Er sprach nur noch von Seppuku, von Regeln der Ehre, die Zerstörung legitimierten, und von Selbsttötung – kurz, von all dem Mist, der ihr zuwider war, weil er sie an ihren Vater erinnerte.
Aber ließ sich daraus schließen, dass er verrückt war? Nein. Im Übrigen war sie ziemlich sicher, dass die Vorfälle mit einer seiner Ermittlungen zu tun hatten. Und dass er den Schuldigen kannte. Wahrscheinlich handelte es sich hier um einen finsteren Rachefeldzug, über dessen Hintergründe er nicht reden wollte.
Der Verkehr auf der Avenue Charles de Gaulle lief flüssig. Naoko fuhr weiter bis zum Stadtring. Es gab noch ein weiteres Problem, dem sie sich an diesem düsteren Morgen stellen musste. Am Vortag hatte sie nach Feierabend einen Termin mit ihrem Anwalt Michel Rhim gehabt und ihm von dem gehäuteten Affen erzählt. Schlimmer noch: Sie hatte sogar ihren Verdacht gegenüber Passan erwähnt. Rhim hatte geradezu triumphiert, von psychiatrischen Gutachten und
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